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Interviews
17.05.2023

Interview des Monats mit Prof. Martin Scherer „Überversorgung gefährdet die Patientensicherheit“

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) hat ihre Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden“ überarbeitet. Im Update stellt sie konkrete Beispiele für Über- oder Unterversorgung vor. Warum mittlerweile eine „ganz neue Dringlichkeit“ entstanden ist, sich mit Überversorgung in der Medizin auseinanderzusetzen, erläutert DEGAM-Präsident Prof. Marin Scherer im „Interview des Monats“. Er stellt außerdem klar, dass der Schutz der Ressourcen nicht nur finanzielle Mittel betrifft, sondern auch den Umweltschutz und den Fachkräftemangel.

Was hat sich in den vergangenen drei Jahren seit der Vorstellung der Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung“ konkret getan – wo sehen Sie positive, wo negative Entwicklungen?
Insgesamt konnte die Leitlinie intensiv auf zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen und über mediale Aktivitäten verbreitet werden. Der Impact auf die Versorgung lässt sich schwer abschätzen. Allerdings hat in der Zwischenzeit das Thema Klimaschutz Einzug in den Gesundheitssektor gehalten. Damit entsteht eine ganz neue Dringlichkeit, sich mit der Überversorgung in der Medizin auseinanderzusetzen. „Less is more“ wird also auch aus Klimaschutzgründen mehr Rückenwind bekommen. Wenn die Überversorgung abgebaut wird, entstehen echte Co-Benefits – für die Patientinnen und Patienten sowie für die Umwelt.

Welche neuen Akzente setzten Sie bei der aktualisierten Leitlinie?
Die bisher geleistete Arbeit an der Leitlinie bauen wir durch das Update aus. Denn das Problem haben wir in unserem Gesundheitssystem noch lange nicht in den Griff bekommen. Dabei ist es ja ganz einfach: Überversorgung gefährdet die Patientensicherheit und verschwendet Ressourcen. Unterversorgung schadet ebenfalls. Außerdem muss der Schutz des Klimas unbedingt berücksichtigt werden: Je mehr Leistungen erbracht werden, desto höher fallen die CO₂-Emissionen im Gesundheitswesen aus. Die Leitlinie zeigt klar auf, welche Leistungen in der Medizin eingespart werden können. Dieser Schutz der Ressourcen betrifft im Übrigen nicht nur finanzielle Mittel und den Umweltschutz, sondern heute auch den Fachkräftemangel, der in der Medizin längst angekommen ist. Auch hier gilt: Je mehr Leistungen, desto weniger Personal steht für die wirklich wichtigen Dinge zur Verfügung.

Gibt es fachgebietsübergreifende Anstrengungen, sich gegen Über- und Unterversorgung zu engagieren? Kooperieren Sie beispielsweise mit der „Klug entscheiden“-Initiative der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin?
Sowohl die Initiative „Klug entscheiden“ als auch unsere Leitlinienarbeit stellen sich unter das gemeinsame Dach der AWMF, so dass wir uns gleichermaßen für den Schutz vor Über- und Unterversorgung engagieren und abstimmen. Der Unterschied ist, dass wir uns als DEGAM dafür entschieden haben, das Thema in die Leitlinienarbeit einfließen zu lassen, weil wir damit konkrete Änderungen in der evidenzbasierten Allgemeinmedizin und der Hausarztpraxis bewirken können. Damit erreichen wir mehr.

Bei seinem Amtsantritt hat Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach eine Gesundheitspolitik angekündigt, die sich an der evidenzbasierten Medizin orientiert. Wie viel ist von diesem Anspruch im politischen Alltagsgeschäft übriggeblieben?
Der Gesundheitsminister steht seit vielen Jahren zu den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin, was er unter anderem auch durch seine Gründungsmitgliedschaft im Netzwerk Evidenzbasierte Medizin dokumentiert. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er sich von diesen Grundsätzen abgewendet hat. Abgesehen davon ist es natürlich so, dass Gesundheitspolitik immer aus Kompromissen besteht. Wie viel von den evidenzbasierten Erkenntnissen zum Schluss übrig bleibt, hat nicht immer etwas mit den Überzeugungen der involvierten Personen zu tun, sondern damit, dass in den politischen Prozessen des Aushandelns nicht alles umgesetzt werden kann, das man für wichtig hält. Das gilt aber nicht nur für Karl Lauterbach, sondern generell für Politikerinnen und Politiker aller Couleur.