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Interviews
24.05.2022

Interview des Monats mit Dr. Ruth Hecker „Sicherheitskultur steht und fällt mit der politischen und organisatorischen Führung“

„Es muss möglich sein, mutig, offen und ehrlich über Fehler und Probleme zu sprechen“, fordert Dr. Ruth Hecker. Die Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS) hält die Sicherheitskultur im deutschen Gesundheitswesen für deutlich „ausbaufähig“. Im „Interview des Monats“ erklärt sie, wo die größten Umsetzungsdefizite bestehen.

Patientensicherheit bedeutet auch Behandelndensicherheit. Wie meinen Sie das?
Die Bedeutung der Mitarbeitersicherheit ist in den letzten Jahren, gerade im Zuge der Pandemie, als besonders relevantes Kriterium für die Stabilität ganzer Gesundheitssysteme erkannt worden. Die Mitarbeitenden sind das höchste Gut einer jeden Gesundheitseinrichtung. Neben der physischen Mitarbeitersicherheit kommt der psychischen Sicherheit der Beschäftigten in der Gesundheitsversorgung eine wachsende Bedeutung zu. Phänomene wie die Second-Victim-Traumatisierung oder moralische Verletzungen zwingen zunehmend das Pflegepersonal beispielsweise zur Berufsaufgabe.

Was sind die Folgen für die Patientinnen und Patienten?
Zum Beispiel signifikant erhöhte Raten an Infektionen oder Dekubitalulcera, aber auch Fehler bei der Medikamentenversorgung oder sogenanntes „failure to rescue“. Phänomene, die auch unter normalen Arbeitsbedingungen auftreten.

Was bedeutet „failure to rescue“ genau?
„Failure to rescue“ beschreibt den Anteil der Patientinnen und Patienten, die nach einer schwerwiegenden, aber prinzipiell behandelbaren Komplikation während des Krankenhausaufenthalts verstorben sind. Für einzelne betroffene Patienten erscheinen sie zunächst als schicksalhaftes und zufälliges Ereignis. Erst in der Häufung der Fälle über das bei guter Versorgung erwartbare Niveau hinaus werden Probleme deutlich.

Der globale Aktionsplan für Patientensicherheit beinhaltet sieben strategische Handlungsfelder und 35 konkrete Ziele, die bis 2030 erreicht werden sollen. Wo bestehen in Deutschland derzeit die größten Umsetzungsdefizite?
Insgesamt ist die Sicherheitskultur hierzulande deutlich ausbaufähig. Es muss möglich sein, mutig, offen und ehrlich über Fehler und Probleme zu sprechen. Wir investieren zum Beispiel zu wenig in Vorhaltekosten. Dabei geht es nicht nur um Sachkosten, sondern auch um Personalkosten für „Reserve“-Personal. Ich bin mir nicht sicher, welche Vorhaltekosten im Koalitionsvertrag der Ampelregierung gemeint sind. Es ist außerdem erforderlich, Patientensicherheit in der beruflichen Aus-, Fort-, und Weiterbildung zu verankern. Ein weiteres Problem ist, dass wir viel zu wenig zu dem Thema forschen. Auch sind die Systeme zur Überwachung der Patientensicherheit erweiterungsfähig.

Das ist eine anspruchsvolle Agenda.
Das stimmt. Dreh- und Angelpunkt ist allerdings: Wir wissen gar nicht wirklich, ob wir 2030 besser oder schlechter geworden sind, weil wir keine Parameter für Patientensicherheit in Zahlen messen.

Woran fehlt es konkret?
Es erfolgen bislang keine direkten Angaben über das, was bei den Patientinnen und Patienten ankommt. Wenn wir das wissen wollen, müssen wir sie fragen: Das sind Patientenbefragungen auf der Basis von PROMS (Patient Reported Outcome Measures) und PREMS (Patient Experience Outcome Measures). Wir schlagen außerdem vor, sogenannte SEVer-Events (schwerwiegende Ereignisse, die wir sicher verhindern wollen) zu messen. Diese Events haben wir erstmalig für Deutschland definiert. Sie könnten als Indikatoren verwendet werden.

Was muss die Politik konkret tun, damit Patientensicherheit priorisiert wird?
Patientensicherheit muss deutlich mehr als Leitprinzip im Gesundheitswesen umgesetzt werden. Das bedeutet: die Verantwortung für Patientensicherheit im Management der Institutionen und im politischen Selbstverständnis auf kommunaler, landes- und bundespolitischer Ebene zu verankern. Das Einbeziehen der Bevölkerung ist ebenso obligat wie Transparenz über Qualität und Patientensicherheit. Wir müssen als Gesellschaft den Mut haben, diese Fehler offen anzusprechen. Das alles hängt aber maßgeblich von den Entscheidungen der Politik, der Stakeholder, des Vorstands beziehungsweise der Geschäftsführung ab, die die Rahmenbedingungen beeinflussen, und die Sicherheitskultur im Unternehmen fördern – oder eben nicht. Sicherheitskultur steht und fällt mit der Verantwortung der politischen und organisatorischen Führung.