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Interviews
22.02.2023

Interview des Monats mit Prof. Ferdinand Gerlach Notfallreform: „Der ambulante Bereich kommt zu kurz“

Ein Schwerpunkt des Gutachtens, das der Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege im Sommer 2018 dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn überreicht hat, ist die Reform der Notfallversorgung gewesen. Vieles, was der SVR damals vorgeschlagen hat, findet sich in der aktuellen Stellungnahme von Lauterbachs Regierungskommission wieder – wenn auch mit zum Teil recht unterschiedlicher Akzentuierung. Im „Interview des Monats“ bewertet der ehemalige Ratsvorsitzende Prof. Ferdinand Gerlach die Vorschläge der Kommission. Sein Urteil: Es handelt sich lediglich um „ein Bruchstück einer umfassenden Reform der Notfallversorgung“.
 

Was war Ihre erste Reaktion beim Lesen der Stellungnahme  der Regierungskommission?
Ich habe natürlich viel wiedererkannt von dem, was der Sachverständigenrat bereits 2018 empfohlen hat – bei dieser Stellungnahme hat die Kommission immerhin eine Quelle angegeben. Mein Eindruck ist, dass die Stellungnahme der Kommission zu stark und zu einseitig aus Kliniksicht formuliert wurde. Der ambulante Bereich kommt zu kurz, der Rettungsdienst wird überhaupt nicht behandelt. Auch andere wichtige Themen, wie zum Beispiel Ersthelfer-Reanimation oder Verbesserung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung, werden nicht erwähnt. Für mich handelt es sich damit lediglich um ein Bruchstück einer umfassenden Reform der Notfallversorgung.

Eine ganz wichtige Rolle im Reformkonzept spielen die Integrierten Notfallzentren (INZ). Können sich KVen und Krankenhäuser nicht einigen, setzt die Kommission den Kliniken den Hut auf. Der Referentenentwurf von Spahn hatte das zugunsten der KVen gelöst. Welche Variante halten Sie für sinnvoll – auch in Bezug auf den Sicherstellungsauftrag?
In unserem Gutachten, in dem wir den Begriff der Integrierten Notfallzentren erstmalig prägten, haben wir betont, dass die Zentren tatsächlich integriert sein müssen. In ihnen soll die bestehende Mauer zwischen den Sektoren eben nicht unverändert stehen bleiben. Wir wollten die Zentren zu eigenständigen Einrichtungen mit eigener Rechtsform und Finanzierung machen, die von Krankenhäusern und KVen gemeinsam betrieben werden. Die Regierungskommission, in der kein einziger Niedergelassener vertreten ist, schaut mit der Krankenhausperspektive darauf und schlägt faktisch vor, dass die Krankenhäuser den Hut aufhaben. Das halte ich für falsch.

Warum ist das falsch?
Es geht unter anderem darum, Staubsaugereffekte zu begrenzen. Gerade in kleineren Krankenhäusern werden ungefähr 50 Prozent der Patienten, die in der Notaufnahme gesehen werden, stationär aufgenommen. Diese Häuser generieren einen großen Teil ihrer stationären Aufnahme aus der Notaufnahme. Diese Selbsteinweisung, die auch im internationalen Vergleich auffällig ist, würde verhindert, wenn man die niedergelassenen Ärzte an den zentralen Tresen stellt. Im normalen System gehen die Patienten auch nicht selbstständig ins Krankenhaus, sondern bekommen dafür eine Einweisung vom niedergelassenen Arzt. Dieses Prinzip sollte auch im Notfall Vorrang haben.

Was schlagen Sie als Kompromiss vor?
Das „I“ in INZ steht für integriert. Ich würde auf jeden Fall darauf drängen, dass die Krankenhäuser und die niedergelassenen Ärzte das INZ gemeinsam betreiben. Man kann sich darüber austauschen, ob die Führung alternierend ist, ob es eine Doppelspitze gibt oder wie man das vertraglich und inhaltlich-fachlich regelt. Aber das zukünftig allein den Krankenhäusern in die Hand zu geben, ist im Zeitalter einer hierzulande längst überfälligen Ambulantisierung völlig unangemessen.

Die Reform des Rettungsdienstes hat die Kommission auf Wunsch Lauterbachs auf eine spätere Empfehlung verschoben. Halten Sie das für eine sinnvolle Strategie?
In Deutschland existieren nebeneinander drei Säulen der Notfallversorgung: der ärztliche Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Ärzte, die Krankenhäuser mit den Notaufnahmen sowie der Rettungsdienst, der seinen ganz eigenen Spielregeln folgt. Und dann gibt es die Patienten, die gar nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen – weshalb das System mit enorm viel Fehlsteuerung und nicht bedarfsgerechter Inanspruchnahme einhergeht. Eine bedarfsgerechte Versorgung muss aus Patientensicht gedacht werden: Was braucht der Patient, was wünscht er sich, wie verhält er sich, welche Informationen benötigt er, was gibt es für Anreize? Es macht überhaupt keinen Sinn, an einer Stelle etwas zu ändern, während die anderen Bereiche nicht mitgedacht werden. Wenn an einer Stelle geschraubt wird, drehen sich alle Räder mit und es werden Umgehungs- bzw. Vermeidungsstrategien in Gang gesetzt. Gerade bei der Notfallversorgung müssen die drei Säulen und die Patientensicht gemeinsam betrachtet und beeinflusst werden.

Klappt es mit der Notfallreform in dieser Legislatur?
Man muss versuchen, den Druck, der jetzt besteht, für produktive Reformen zu nutzen. In den vergangenen Legislaturperioden sind unter den Ministern Gröhe und Spahn viele Konflikte mit Geld zugekleistert oder auf die lange Bank geschoben worden. Jetzt kommen wir in eine Situation, in der das nicht mehr geht. Der finanzielle Druck ist so hoch, dass die Veränderungsbereitschaft steigt. Mein Vorgänger Eberhard Wille hat immer gesagt, dass große Reformen Kinder der Not seien.


Hinweis in eignener Sache:
Das Interview ist gekürzt. Das vollständige Gespräch erscheint in der nächsten Ausgabe des Infodienstes opg der Presseagentur Gesundheit.