Direkt zu:

Interviews
16.04.2025

Interview des Monats mit Prof. Matthias SchrappeWarum die Politik Unterversorgung nicht negieren kann

In einem aktuellen Aufsatz* setzen sich Prof. Matthias Schrappe und weitere Experten mit der Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen auseinander. Ihr Ziel: das Thema in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion zu rücken. Sie beobachten in fachlichen und wissenschaftlichen Kreisen noch immer eine erhebliche Zurückhaltung. Im „Interview des Monats“ erläutert Schrappe die Hintergründe.

Ihr Aufsatz verfolgt das Ziel, das „neue Thema“ der Unterversorgung in den Mittelpunkt zu rücken. Dabei ist das Thema doch gar nicht neu, der Sachverständigenrat hat das Problem schon vor vielen Jahren adressiert. Was meinen Sie mit "neu"?
Natürlich gibt es eine fachliche Beschäftigung mit der Thematik schon länger. Der Begriff „Unterversorgung“ wurde bereits im „Leuchtturm“-Gutachten des Sachverständigenrates 2000/2001 zu Über-, Unter- und Fehlversorgung definiert und auf die Vorenthaltung von Leistungen bezogen, für die ein „objektiver Bedarf“ besteht. Diese Argumentation haben wir im jetzigen Gutachten auch nachvollzogen und auch ausgebaut, indem wir zum Beispiel Patientenpräferenzen und Werteentscheidungen mit einbezogen haben. Der zentrale Unterschied besteht aber in der fachlichen und gesundheitspolitischen Bewertung.

Inwiefern?
Vor 25 Jahren standen, übrigens völlig berechtigt, die Über- und gerade auch die Fehlversorgung – zum Beispiel bedingt durch Qualitätsmängel – im Vordergrund. Die Unterversorgung wurde als Problem von rein marktgesteuerten Gesundheitssystemen wie in den USA oder von staatlichen Systemen wie UK angesehen, die in Deutschland keine Relevanz besitzen. Das hat sich jetzt grundlegend geändert, deswegen auch unsere inhaltliche Schwerpunktsetzung. 

Sie zeigen in dem Papier verschiedene Facetten der Unterversorgung auf. Bei welcher Problemkonstellation besteht Ihrer Meinung nach der größte Handlungsdruck?
Im Vordergrund der Wahrnehmung, in der Öffentlichkeit übrigens genauso wie im fachlich-wissenschaftlichen Bereich, steht immer der Zugang zu Leistungen, der sich wiederum auffächert in geographische Aspekte, soziale und finanzielle Aspekte und neuerdings auch zunehmend in die (Un)Fähigkeit, sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden, die sogenannte navigationale Unterversorgung. Wir haben zunehmend soziale und finanzielle Faktoren, die eine Rolle spielen, wenn etwa bei der Terminvergabe im ambulanten Bereich die selbstfinanzierte Inanspruchnahme von Leistungen aus dem IGeL-Bereich zur Vorbedingung gemacht wird. Aber wir dürfen natürlich nicht vergessen, dass auch die Fehlversorgung wichtige Aspekte von Unterversorgung in sich trägt, deswegen sind wir hier auch ausführlich drauf eingegangen. Denn wenn man eine Leistung ohne Einhaltung des Medizinischen Standards beziehungsweise mit Qualitäts- und Sicherheitsproblemen als Patient erhält, heißt dies ja, dass einem die Leistung in der adäquaten Form vorenthalten wird. In diesem Bereich hat sich viel getan in den letzten Jahren. Auch Systemfaktoren wie das duale Versicherungssystem sind zu berücksichtigen.

Sie konstatieren bei dem Thema Unterversorgung in fachlichen und wissenschaftlichen Kreisen eine „erhebliche Zurückhaltung“. Was erhoffen Sie sich konkret von Ihrem Papier? Und wie schätzen Sie bei den politischen Entscheidungsträgern die Bereitschaft ein, sich mit Unterversorgung auseinanderzusetzen?
Alle Themen haben ihre Zeit, in der sie „in aller Munde“ sind. Berechtigterweise war dies für die Über- und Fehlversorgung in den vergangenen 25 Jahren der Fall. Jetzt ist der gesellschaftliche Kontext jedoch ein anderer geworden, denn im öffentlichen Raum wird sehr viel mehr über Probleme in der Infrastruktur und Daseinsfürsorge diskutiert. Diese Probleme wie Verkehr, Schuldbildung etc. hängen, so wie Studien zuverlässig zeigen, auch mit dem Wahlverhalten zusammen, sie sind für die Bevölkerung von größter Relevanz. Insofern stehen Probleme im Zugang zur Versorgung nicht nur aus professioneller und ethischer Sicht im Vordergrund, sondern sind auch aus Sicht der „Nutzer“, also der Patienten, von entscheidender Bedeutung. 

Was folgt daraus?
Dies wird dazu führen, dass das Thema der Unterversorgung in den nächsten Jahren nicht aus den Schlagzeilen verschwindet, auch nicht im gesundheitspolitischen und fachlichen Bereich. Ganz im Gegenteil, die fachärztliche Versorgung und der Zugang zu Notfall- und zur stationären Versorgung wird ein zentrales Thema werden. Dies dürfte dazu führen, dass auch die politische Seite dies nicht negieren kann.



*„Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen – das unterschätzte Problem“ lautet der Titel eines Aufsatzes der Autorengruppe Gesundheit, der im April im „Monitor Versorgungsforschung“ erschienen ist. Der Gruppe gehören neben Prof. Matthias Schrappe an: Hedwig François-Kettner, Franz Knieps, Prof. Klaus Kraemer, Hartmut Reiners, Prof. Martin Scherer und Dr. Thomas Voshaar. Das Short Paper #1 entstand unter Mitarbeit von Prof. Dr. Jürgen Windeler.
Link