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Interviews
21.02.2017

Interview des Monats mit Nicole Verdenhalven Wie Auszubildende mit Gröhe über Gerechtigkeitsfragen diskutieren

Berlin (pag) – Nicole Verdenhalven ist Schulleiterin der Berliner Rahel-Hirsch-Schule, einem Oberstufenzentrum für Gesundheit/Medizin. Dort fand im Februar zum ersten Mal ein gesundheitspolitisches Forum statt. Das Thema lautete: „Gerechte Verteilung von Geldern und Ressourcen im Gesundheitswesen?“ Im Interview berichtet die Schulleiterin, welche Gerechtigkeitsfragen angehende (zahn-)medizinische Fachangestellte mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe diskutiert haben – und bei welchem Thema der Politiker emotional wurde.

Sie haben einen Projekttag zur Ressourcenverteilung veranstaltet. Warum haben Sie dieses Thema gewählt? Gab es einen konkreten Anlass?

Nicole Verdenhalven: Fragen nach einer gerechten Verteilung von Geldern und Ressourcen im Gesundheitswesen spüren angehende Medizinische und Zahnmedizinische Fachangestellte in ihrem beruflichen Alltag sehr schnell. Sie erleben die Brüche zwischen den Bedürfnissen der Patienten und den gesetzlichen Rahmenbedingungen in ihrer unmittelbaren beruflichen Tätigkeit: Ist es in Ordnung, dass Privatpatienten bevorzugt behandelt werden? Was spüre ich, wenn ältere Menschen im Grunde vor allem Kontakt suchen, die Praxis jedoch voll und der Arbeitsdruck hoch ist? Mit dem ersten Gesundheitspolitischen Forum an unserer Schule sind wir diesen und weiteren Fragen nachgegangen.
Wichtig ist uns, die berufliche und politische Bildung so zu verknüpfen, dass die Inhalte den beruflichen Realitäten der jungen Menschen entsprechen und sie dadurch Interesse an Politik gewinnen sowie zur selbständigen Urteilsbildung befähigt werden.

Die Schüler haben sich in Workshops ausgetauscht und diskutiert. Welche Fragen brennen ihnen besonders unter den Nägeln?

Verdenhalven: In einer ersten Phase haben sich die Auszubildenden beider Berufe in gemischten Gruppen auf die Gespräche mit Experten aus der Gesundheitspolitik intensiv vorbereitet. Dabei kam dem gemeinsamen Austausch ein hoher Stellenwert zu. Zu hören, dass andere ähnliche Erfahrungen in der beruflichen Praxis erleben, bewegte sie in besonderer Weise. Anhand von zugespitzten, aber typischen Dilemma-Situationen schärften sie in verschiedenen Planspielen ihr medizinisches Bewusstsein: Empathie mit der Situation der Betroffenen, medizinische bzw. gesundheitsökonomische Fachkenntnisse und ethisches Urteilsvermögen waren gleichermaßen gefordert.

Wie ging es dann weiter?

Verdenhalven: Die Auszubildenden haben ihre gewonnenen Erkenntnisse mit erfahrenen Fachleuten aus der Gesundheitspolitik vertieft – Vertreter von Krankenkassen, Gewerkschaften sowie eine Mitarbeiterin des Bundestages waren unter anderem dabei. Fragen nach einer gerechten Entlohnung in Gesundheitsberufen, nach gleichen Leistungen für Versicherte oder auch nach dem Konflikt von medizinischen Standards und wirklichen Bedürfnissen von Patienten waren einige der Themen, die die Jugendlichen für den dritten Teil der Veranstaltung – der Podiumsdiskussion mit Bundesminister Hermann Gröhe – formulierten.

Welche Botschaft haben Sie von der Podiumsdiskussion mitgenommen, was hat die Schüler beeindruckt?

Verdenhalven: Es zeigte sich, dass die Frage der Gerechtigkeit nicht einfach ist. Eine schnellere Terminvergabe für Privatpatienten ist die eine Sache, eine andere ist, dass bei uns alle Menschen eine stabile und sehr gute Gesundheitsversorgung bekommen. „Ich bin mit meinen vier Kindern selbst gesetzlich versichert“, sagte Minister Gröhe und betonte, dass es viele familienbezogene Leistungen in der Privaten Krankenversicherung nicht gebe. Besonderes Interesse hatten die Auszubildenden an Berufsperspektiven und den Aussichten für medizinische Fachberufe. Der Minister ermutigte sie, sich weiterzubilden. Viele Hochschulen entwickelten neue Berufsbilder im Gesundheitssektor, die zwischen Ausbildungsberuf und Medizinstudium neue Chancen bieten. Sylvia Gabel vom Verband medizinischer Fachberufe hob hervor: „Aufstiegsfortbildung ist möglich, aber auch immer eine Frage des Geldes.“ Sie appellierte, diese finanziell besser zu unterstützen. Gleichwohl räumte sie ein, dass oft auch die Bereitschaft sich fortzubilden fehle: „Bei vielen Kolleginnen kommt irgendwann der Prinz vorbei, es wird geheiratet und dann wird man nicht mehr Zahnärztin“, kritisierte sie.

Über welche Themen haben Sie sich außerdem ausgetauscht?

Verdenhalven: Auf die Frage nach einer besseren medizinischer Versorgung im Alter antwortete Hermann Gröhe mit einem Hinweis auf die Reformen in der Pflegeversicherung. „Wir geben jetzt jedes Jahr fünf Milliarden Euro mehr in der Pflege aus. Das sind 23 Prozent.“ Trotzdem, da herrschte auf dem Podium Einigkeit, lassen sich die Herausforderungen des steigenden Bedarfs an Pflege nur bewältigen, wenn die noch immer niedrige Bezahlung der Pflegekräfte verbessert wird. Als es zum Schluss um Prävention ging, wurde der Minister leidenschaftlich: „Ein deutscher Wissenschaftler bekommt den Nobelpreis dafür, dass er eine Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs entdeckt. Und wir haben eine beschämend niedrige Impfrate bei uns.“ In Berlin sei ein Kind an Masern gestorben, weil es nicht geimpft wurde. „Das darf eigentlich nicht sein“, so Gröhe. Er wies die Jugendlichen außerdem darauf hin, dass pro Jahr ebenso viel Geld für die Behandlung von erkrankten Rauchern ausgeben werde wie für die Pflege. „Solche Kosten sind vermeidbar, aber sie lassen sich nicht befehlen. Vieles kann man nicht einfach in ein Gesetz schreiben“, lautete sein Resümee.

... und wie lautet Ihr Resümee?

Verdenhalven: Der Tag ist sehr erfolgreich verlaufen. Unsere Auszubildenden haben wichtige Impulse für ihren weiteren beruflichen Werdegang mitgenommen, das zeigen auch erste Rückmeldungen: „Wir haben viele Informationen erhalten, die direkt etwas mit unserem Beruf zu tun haben. Aber gerade die emotionale Ebene und die persönliche Betroffenheit waren sehr hilfreich“, sagte eine Workshop-Teilnehmerin am Ende des Tages.

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