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Interviews
25.04.2017

Interview des Monats mit Dr. Andreas Mielck und Dr. Verina Wild „Sind wirklich alle gesundheitlichen Ungleichheiten ungerecht?“

Berlin (pag) – Eine Priorisierung gesundheitlicher Ungleichheiten hat der Sozialepidemiologe Dr. Andreas Mielck kürzlich auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ in Berlin angesprochen. „Die Politik wird uns auffordern zu sortieren.“ Bei der Etablierung einer Rangfolge und der Auswahl geeigneter Kriterien benötige man die Hilfe der Ethik, sagt Mielck. Gemeinsam mit der Public-Health-Ethikerin Dr. Verina Wild, Ludwig-Maximilians-Universität München, untersucht er momentan, welche gesundheitlichen Ungleichheiten ungerecht sind – und welche nicht. Ein Thema, das hierzulande noch nicht viel Aufmerksamkeit erfährt. 

Belege für gesundheitliche Ungleichheiten in Deutschland werden seit vielen Jahren vorgelegt, aber wie sieht es mit der Bewertung aus, welche Ungleichheiten ungerecht sind und um welche man sich prioritär kümmern sollte? Drücken sich die Wissenschaftler davor?

Dr. Mielck: Sind wirklich alle gesundheitlichen Ungleichheiten „ungerecht“, das heißt müssen wirklich alle durch sozial-politische Maßnahmen verringert werden? Das ist eine berechtigte Frage, und in Deutschland wird darüber kaum intensiv diskutiert. Man kann jedoch nicht sagen, dass sich die Wissenschaftler vor dieser Frage drücken. Die Sozial-Epidemiologen konzentrieren sich auf ihre Expertise, die Durchführung empirischer Studien zur gesundheitlichen Ungleichheit. Zur normativen Bewertung dieser Ungleichheiten können sie wenig sagen, dies gehört zum Arbeitsgebiet der Public-Health-Ethiker. Notwendig wäre daher eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Sozial-Epidemiologen und Public-Health-Ethikern, aber davon ist in Deutschland bisher wenig zu sehen.

Dr. Wild: Ich würde nicht sagen, dass sich in Deutschland die Wissenschaftler im Bereich Ethik davor drücken. Ich halte es eher für ein disziplinäres Problem. Wir haben die Public-Health-Ethik, die dieses Problem primär diskutieren würde, in Deutschland noch gar nicht gut implementiert. Hier gibt es noch viel Wichtiges und Spannendes zu tun.

Ist man im Ausland schon weiter, was können wir von anderen Ländern lernen?

Dr. Mielck: Aus der Diskussion in anderen Ländern können wir in der Tat einiges lernen. Um nur zwei Punkte hervorzuheben: Sozial-Epidemiologen unterscheiden manchmal zwischen „health inequalities“, also gesundheitlichen Ungleichheiten, und „health inequities“, gesundheitlichen Ungerechtigkeiten. Und Public-Health-Ethiker diskutieren über komplexe Gerechtigkeitsmodelle. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Sozial-Epidemiologen und Public-Health-Ethikern ist aber auch dort nicht sehr ausgeprägt.

Dr. Wild: Die Debatte, welche gesundheitlichen Ungleichheiten ungerecht sind, wird in der angloamerikanischen Literatur bereits recht intensiv diskutiert. Dort gibt es seit einigen Jahren umfangreiche Theorien zur Gerechtigkeit der Gesundheit. In Deutschland hat diese Debatte allerdings noch nicht ausreichend Fuß gefasst. Wir könnten gut an dem anknüpfen, was es bereits an Forschung und Lehre oder an Netzwerken und Konferenzen im englischsprachigen Raum gibt.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit kann herausfordernd sein – wo bestehen Reibungspunkte zwischen Ethikern und Epidemiologen, was können beide Disziplinen voneinander lernen?

Dr. Mielck: Aus Sicht der Sozial-Epidemiologen lassen sich beispielsweise folgende Reibungspunkte nennen: Sie gehen zumeist davon aus, dass alle (!) gesundheitlichen Ungleichheiten durch sozial-politische Maßnahmen verringert werden sollten. Diese Haltung wird durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit jedoch in Frage gestellt. Die Ethiker kritisieren zu Recht, dass die Unterscheidung zwischen „health inequalities“ und „health inequities“ genau begründet werden sollte, allerdings muss solch eine theoretische Begründung auch wieder gut an die Praxis angebunden werden.

Dr. Wild: Sowohl Methoden als auch Theorien unterscheiden sich grundlegend bei Wissenschaftlern, die empirisch – eher in der Epidemiologie – oder normativ – eher in der Ethik – arbeiten. Bevor eine Verständigung zu Themen und Methoden stattfindet, müssten also im Grunde wissenschaftstheoretische Annahmen und Vorgehensweisen erklärt und akzeptiert werden. Das kann mühsam sein. Die Public-Health-Ethik könnte die Brücke zwischen Epidemiologie und philosophischer Ethik sein, sie ist sowohl offen für empirische als auch für normative Vorgehensweisen.

Dr. Andreas Mielck und Dr. Verina Wild schreiben zur Zeit an einem gemeinsamen Buch mit dem Arbeitstitel: Welche gesundheitlichen Ungleichheiten sind „ungerecht“ – und welche nicht? Ansätze aus Sozial-Epidemiologie und Public-Health-Ethik zur normativen Bewertung der gesundheitlichen Ungleichheit.

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