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Interviews
25.08.2017

Interview des Monats mit Prof. Sylvia Sänger „Wir brauchen mehr unkonventionelle Lösungen“

Berlin (pag) – Eine neu gegründete Allianz verschiedener Akteure des Gesundheitswesens will die Gesundheitskompetenz der Bürger verbessern. Neu ist dieses Ansinnen nicht. Prof. Sylvia Sänger von der SRH-Hochschule für Gesundheit in Gera beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Gesundheitskommunikation. Sie sagt: „Erkenntnisse, die wir aus Studien und Fördermodellen gewinnen, kommen nicht ausreichend in der Praxis an.“ Es fehle oft an Transferleistungen und nachhaltigen Umsetzungen. Sänger macht sich im „Interview des Monats“ außerdem für mehr unkonventionelle Lösungen stark.

Der Patient steht im Mittelpunkt, propagieren die Akteure des Gesundheitswesens immer. Aber um seine Gesundheitskompetenz und die der deutschen Bevölkerung allgemein ist es dennoch nicht gut bestellt, oder?
Das ist leider so. Dem European Health Literacy Survey zufolge hat rund die Hälfte aller befragten Personen eine unzureichende oder problematische Gesundheitskompetenz. Das bedeutet, sie finden und verstehen Informationen nicht und haben Probleme, Entscheidungen zu ihrer Gesundheit und Gesunderhaltung zu treffen. Im Internet gibt es eine Reihe von guten Informationen und Entscheidungshilfen, die auch wissenschaftlich begründet sind – wie zum Beispiel www.gesundheitsinformation.de oder www.patienten-information.de.

...aber?
... im allgemeinen „Rauschen“ des Internets finden Laien diese verlässlichen Angebote oft gar nicht. Sie wissen auch nicht, woran man eine „gute“ und verlässliche Information erkennt. Die brauchen wir jedoch, um gute Entscheidungen zu treffen. Sicher sind Ärzte die wichtigste Informationsquelle. Aber vermitteln sie alle für eine Entscheidung notwendigen Informationen? Und wissen die Patienten, dass sie zu allen Gesundheitsfragen mitentscheiden dürfen und auch sollen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das in vielen Fällen nicht so ist: Entweder werden oder fühlen sich Patienten nicht ausreichend aufgeklärt, oder sie fühlen sich mit allen Informationen und einer Entscheidung überfordert.

Wo besteht der dringendste Handlungsbedarf?

Zwei Dinge: Patienten sollten alle wissenschaftlich begründeten Informationen, die sie in Verbindung mit ihrer Erkrankung benötigen, in einer verständlichen Form zur Verfügung gestellt bekommen. Außerdem gilt es, die Kompetenz der Patienten zu stärken, damit sie diese Informationen verstehen und zur Lösung ihres individuellen Gesundheitsproblems anwenden können.

Wie lässt sich das bewerkstelligen?

Notwendig ist eine Internet-Plattform, auf der alle verlässlichen Informationsquellen zu Erkrankungen, der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und Hilfestellungen wie Fragenchecklisten, Entscheidungshilfen, Medikationspläne etc. verfügbar sind. Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin hat mit der „Guten Praxis Gesundheitsinformation“ Qualitätskriterien festgelegt. Angebote, die diese Anforderungen erfüllen, müssen an einer Stelle und von einem unabhängigen Anbieter zugänglich gemacht werden. Die Gesundheitspolitik hat diese Aufgabe bereits aufgegriffen.

Wie beurteilen Sie die vom Bundesgesundheitsministerium kürzlich angestoßene „Allianz für Gesundheitskompetenz“: Kann damit wirklich etwas bewegt werden?
Dass es jetzt eine solche Allianz mit Vertretern von Politik, Ärzteschaft, Patienten und Verbrauchern gibt, begrüße ich. Der politische Wille zur Veränderung ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen. Neu sind diese Ziele der Allianz jedoch nicht. Die Förderung der Gesundheitskompetenz hat in Deutschland schon eine längere Geschichte.

Inwiefern?
Bereits im Jahr 2003 hat die Arbeitsgruppe „Patient(innen)souveränität“ im Gesundheitszieleprozess für Deutschland das Gesundheitsziel „Gesundheitliche Kompetenz erhöhen, Patient(innen)souveränität stärken“ definiert. Auch der 2008 veröffentlichte Nationale Krebsplan hat als Teilziele die Bereitstellung qualitätsgesicherter Informations- und Beratungsangebote, die Ausbildung kommunikativer Fähigkeiten, die Stärkung der Patientenkompetenz und die Einbeziehung der Patienten in Entscheidungen zu medizinischen Maßnahmen formuliert. Von 2001 bis 2005 hat das Bundesgesundheitsministerium außerdem den Förderschwerpunkt „Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess“ ins Leben gerufen. Als Ergebnis wurden Entscheidungshilfen entwickelt und getestet sowie Maßnahmen der Aus-, Fort-, und Weiterbildung in Sachen Kommunikation etabliert. Die Experten haben auch ein Curriculum „Partizipative Entscheidungsfindung (PEF) für Patienten und Multiplikatoren“ erarbeitet und eingesetzt. Die Aufzählung ließe sich sicher weiter fortsetzen.

An Maßnahmen und Programmen zur Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung mangelt es in Deutschland also nicht.
Fakt ist, dass in der Praxis eben noch nicht jeder Patient im gewünschten Sinn kompetent ist. Und nicht jeder Arzt ist bereit, im Aufklärungsgespräch auf Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz den Nutzen und die Risiken sämtlicher infrage kommender Maßnahmen darzustellen, die Präferenzen des Patienten zu erfragen und dann eine gemeinsame Entscheidung zu treffen. Erkenntnisse, die wir aus Studien und Fördermodellen gewinnen, kommen nicht ausreichend in der Praxis an. Es fehlt oft an Transferleistungen und nachhaltigen Umsetzungen.
 
Ist vor diesem Hintergrund die neue Allianz ein bloßes Lippenbekenntnis?
Das ist es aus meiner Sicht nicht – vor allem aufgrund der aktuellen Entwicklungen zu Digitalisierung und Gesundheits-Apps. Eine solche Allianz kann aber nur dann nachhaltig wirksam sein, wenn nicht nur erforderliche Maßnahmen definiert werden, sondern auch deren Praxistransfer gesichert wird. Dazu braucht es Strukturänderungen im Gesundheitswesen und völlig neue Angebote. Ein Beispiel hierfür ist das Cafe Med*, eine Schweizer Initiative, bei der ein Expertenteam in einem Bistro Patienten kostenlose Beratungen in Sachen Informationen und Entscheidungen anbietet. Ein anderes Beispiel ist der von ehemaligen Medizinstudierenden ins Leben gerufene Service www.washabich.de – eine Internetplattform, auf der sich Patienten ihre Arztbriefe in eine laienverständliche Sprache übersetzen lassen können. Vielleicht brauchen wir mehr solcher unkonventioneller Lösungen.

* mehr über das Cafe Med gibt es im Web unter https://www.menschenmedizin.com