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Interviews
28.11.2017

Interview des Monats mit Dr. Ursula Kramer „Datenschutz hat natürlich auch mit Interessenschutz zu tun“ 

Berlin (pag) – Während die digitalen Anwendungen im ersten Gesundheitsmarkt – dem Hoheitsgebiet des Sozialgesetzbuchs – noch auf sich warten lassen, erleben Gesundheitsapps einen wahren Boom. Im „Interview des Monats“ erklärt die Digital-Health-Expertin Dr. Ursula Kramer, wer die digitalen Treiber im Gesundheitswesen sind und warum Ärzte zum Teil tiefsitzende Vorbehalte haben.

Es gibt immer mehr Health-Apps, Videosprechstunden und Initiativen einzelner Kassen zur elektronischen Patientenakte. Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen nimmt Fahrt auf. Ist der Eindruck richtig?
Der Eindruck drängt sich mir auch auf. Auf der Medica wurde kürzlich die Fülle an Aktivitäten und Produkten, von der Überwachung der Wundheilung über mobile Diagnostik, digitale Coaches für das Gesundheitsmanagement und Einsatz von Virtuell Reality für Chirurgen etc., überdeutlich. Es gibt einen bunten Strauß an Möglichkeiten. Krankenkassen und andere Akteure schlagen in der digitalen Welt längst ihre Pflöcke ein. Es kommt etwas in Bewegung.

Kommt das nicht etwas spät?
Niemand ist zufrieden mit dem Entwicklungstempo der Gesundheitskarte. Wir arbeiten seit zehn Jahren an einem Mammutprojekt, das bislang nur eine kleine Textdatei, nämlich Namen und Adresse, abspeichert. Natürlich ist das unbefriedigend. Wenn wir nach Estland schauen, sehen wir, wie es auch gehen kann. Dort gibt es längst eine gut funktionierende elektronische Patientenakte für alle. Estland ist aber auch von einer ganz anderen Situation gestartet als wir hier in Deutschland mit einem gut organisierten Gesundheitswesen. Immerhin haben wir in Baden-Württemberg mit einem Piloten in der Videosprechstunde gestartet. Ob Ärzte das dann auch nutzen, ist eine ganz andere Frage.

Immer wieder wird der Datenschutz als ein Haupthemmnis bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens genannt...
Datenschutz hat natürlich auch mit Interessenschutz zu tun und einer Scheu vor Transparenz. Das macht es schwergängig. Innerhalb eines Krankenhauses funktioniert das häufig gut: Da gibt es einen Datenschutzbeauftragten und eine überschaubare Verwendung. Problematisch wird es, wenn wir an Big Data denken, wenn Daten über Organisations- und Sektorengrenzen hinweg aus unterschiedlichen Bereichen zusammengeführt werden. Dann bekommt das Thema eine andere Dimension. Aber Datenschutz ist wichtig und es gibt Modelle aus dem Finanzsektor – Stichwort Bitcoin – die auf die sogenannte Blockchain-Technologie setzen.

Bitcoin?
Bitcoin ist eine Internetwährung, der Handel damit läuft über diese Technologie. Man könnte sie auch auf das Gesundheitswesen übertragen, um den manipulationssicheren, dezentralisierten Austausch von personenbezogenen Gesundheitsdaten zu steuern, darüber wird aktuell diskutiert.
Im Kern bedeutet es, dass der einzelne Versicherte bzw. Patient quasi zum Controller seiner eigenen Daten würde mit eigener digitaler Identität. Er kann seine Daten selbstbestimmt verwalten. Wenn Daten geteilt werden, hat nur der Patient den Schlüssel. Sie werden immer anonymisiert geteilt. Nur der Patient kann seine Daten entschlüsseln. Manipulation der Daten soll so verhindert werden. Ziemlich technisch, ziemlich komplex.

Ärzte scheinen bei der Digitalisierung tiefsitzende Vorbehalte zu haben. Warum?
Auf der Medica haben sie Fragen gestellt wie diese: Wie sieht das Arztbild der Zukunft aus? Braucht man uns noch? Was ist unsere Rolle in der Zukunft? Das beschäftigt Ärzte.

Und was sind die wichtigsten Digitalisierungstrends im Arztbereich?
Viel passiert über künstliche Intelligenz, die Chatbots zur Triage etwa werden immer besser. Beim National Health Service in England ersetzt ein solcher Bot bereits das Callcenter. Man kann nicht mehr unterscheiden, ob ein Computer oder ein Mensch am anderen Ende ist. Das Verfahren ist mittlerweile strukturiert bewertet worden und hat sehr gut abgeschnitten. Auch der Einsatz solcher Bots in Notambulanzen wird kommen. Diagnosen werden schon mal eingekreist und der Arzt kann schneller und besser entscheiden. Bots werden auch in Expertensystemen verwendet, schauen sich sogar Röntgenbilder an und können schon mal eine erste Bewertung abgeben und damit dem Arzt Arbeit abnehmen.

Ist England da Vorreiter? Wieso entwickelt sich das dort und nicht hier?
Bei Knappheit im System entwickelt sich Innovation schneller. Überlegen Sie mal, wie lange es gedauert hat, bis wir in Deutschland eine zentrale Notrufnummer hatten. Oder nehmen Sie die Terminservicestellen, die sind doch ein Witz.

Wer sind die digitalen Treiber im Gesundheitswesen?
Ganz klar: Der Patient, der auch aus anderen Lebensbereichen weiß, wieviel einfacher das Leben ist, wenn man es digital unterstützt. Er wird einfach einfordern, dass diese Technik genutzt wird. Der Patient will sich nicht mehr mit Laufzetteln in der Hand von A nach B schicken lassen und er will sich auch nicht mehr mit langen Wartezeiten abfinden lassen, die schlechter Organisation geschuldet sind. Kein Arzt hat dem Diabetiker gesagt, nimm‘ mal eine App, die dich unterstützt bei Ernährung und Bewegung. Der Patient ist selber in die Stores gegangen und hat danach gesucht.   

Hinweis: Eine ausführlichere Version des Interviews hat die Presseagentur Gesundheit kürzlich im Infodienst opg veröffentlicht.

Bot (von englisch robot ‚Roboter’) = Computerprogramm, das weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeitet

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