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Interviews
26.09.2022

Interview des Monats mit Dr. Carola Reimann Mehr Gestaltungswillen für gerechte Gestaltung von Gesundheit

Berlin (pag) – Eine übergreifende Strategie und Gestaltungswillen über politische Ressortgrenzen hinaus vermisst Dr. Carola Reimann bei der gerechten Gestaltung von Gesundheit. „Gesundheit gerecht gestalten“, lautet auch das Motto des diesjährigen Berliner Gesundheitspreises. Er soll kreativen Ideen eine Plattform bieten und sie bekannter machen, hofft die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. Große Erwartungen knüpft sie außerdem an das von der Bundesregierung geplante Institut für öffentliche Gesundheit.

Dass hierzulande erhebliche Defizite bei der gerechten Gestaltung von Gesundheit bestehen, ist seit vielen Jahren bekannt. Gibt es einen konkreten Anlass für das diesjährige Motto des Berliner Gesundheitspreises?
In der Tat mehren sich seit Jahren die Befunde zu den gesundheitlichen Folgen sozialer Benachteiligung, aber mit der Therapie hapert es. Deutschland kann es sich mit seiner Altersstruktur auf die Dauer schlicht nicht mehr leisten, dass Menschen durch schlechtere Lebensumstände früher und länger an chronischen Erkrankungen leiden. Daher müssen wir dringend die Faktoren in den Blick nehmen, die die größten Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen haben. Diese liegen in den Lebensumständen der Menschen. Wenn sich Kinder nicht altersadäquat entwickeln können, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen, kann dies im Laufe des Lebens massive Folgen für ihre Gesundheit haben. Deshalb braucht es nachhaltige Lösungen, die insbesondere die soziale Situation der Menschen mit in den Blick nehmen. Solche Lösungsansätze gibt es bereits. Der Berliner Gesundheitspreis hat es sich zur Aufgabe gemacht, solchen kreativen Ideen eine Plattform zu bieten und sie bekannter zu machen. Natürlich verbinden wir damit die Hoffnung, dass diese Beispiele dann weiter verbreitet werden und Schule machen.

Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf, um den Teufelskreis aus sozialer Benachteiligung und stärkerer gesundheitlicher Belastung zu durchbrechen? Wo müssen insbesondere die Krankenkassen handeln?
Wir tun ja schon eine Menge: Die AOK hat vulnerable Gruppen bei ihren Präventionsmaßnahmen bereits besonders im Fokus und setzt sich für gesundheitliche Chancengleichheit ein. So erreichen wir beispielsweise mit unseren Präventionsangeboten in den Betrieben sehr viel mehr sozial benachteiligte Beschäftigte ohne abgeschlossene Berufsausbildung als andere Krankenkassen. Unser Augenmerk liegt auch auf der Stärkung der Gesundheitskompetenz. Und im GKV-Bündnis für Gesundheit engagieren wir uns gemeinsam mit den anderen gesetzlichen Krankenkassen, um Gesundheitsförderung und Prävention in den verschiedenen Lebenswelten voranzubringen.      

Wo besteht weiterhin Handlungsbedarf?
Wir müssen vor allem den Zugang vulnerabler Gruppen zur Gesundheitsversorgung sowie die Verständlichkeit von Gesundheitsinformationen im Gesundheitswesen verbessern. Diese Aktivitäten können aber die schlechteren Gesundheitsrisiken durch soziale Benachteiligung nicht kompensieren. Hier brauchen wir vor allem mehr gemeinsamen Gestaltungswillen. Mit dem bisherigen Präventionsgesetz wurden bislang nur Regelungen getroffen, die einseitig die GKV adressieren und die Länder und Kommunen als die für die Lebenswelten Verantwortlichen nicht ausreichend in die Pflicht nehmen.

Bei der gerechten Gestaltung von Gesundheit ist nicht nur das Gesundheitssystem gefragt, sondern auch andere Politikfelder wie Bildung, Arbeit und Stadtplanung. Erkennen Sie beim Health-in-all-Policies-Ansatz gegenwärtig erfolgsversprechende Ansätze oder fällt das Thema politisch durchs Raster?
Tatsächlich fehlt uns in Deutschland eine übergreifende Strategie, wie über alle Ebenen vom Bund bis hinein in die Kommunen die Ressourcen gebündelt werden können, um vor allem für die nachwachsenden Generationen die soziale und gesundheitliche Chancengleichheit zu verbessern. Wir brauchen mehr Gestaltungswille über politische Ressortgrenzen hinweg. Bund, Länder und Kommunen müssen bereit sein, hier an einem Strang zu ziehen. Es braucht gemeinsame Ziele und konkrete Umsetzungsschritte auf allen Ebenen und für jedes Ressort, damit nachhaltige Strukturen entstehen.

Wer hält dafür die Fäden in der Hand?
Wir brauchen eine Institution, die sowohl auf der Ebene des Bundes als auch in den Ländern und bis hinein in die Kommunen Prozesse initiieren und begleiten kann. Das von der Bundesregierung geplante Institut für öffentliche Gesundheit könnte diesen wichtigen Prozess steuern. Die Kassenverbände haben einen ersten Diskussionsvorschlag zur Ausgestaltung vorgelegt. Der Aufbau des neuen Instituts bietet die Chance, eine arbeitsfähige Public-Health-Struktur für ganz Deutschland aufzubauen. Mit dem diesjährigen Berliner Gesundheitspreis wollen wir dazu einen Beitrag leisten, indem wir guten Beispiel eine Bühne bieten.