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Interviews
22.02.2016

Interview des Monats mit Prof. Wolfgang Greiner Über Zusatznutzen, Mondpreise und die Arbeit der Schiedsstelle

Berlin (pag) – In Berlin wurde kürzlich der AMNOG-Report 2016 der DAK vorgestellt. Er soll einen fachlich objektiven Beitrag zu der Weiterentwicklung des Verfahrens liefern, heißt es im Vorwort. Im „Interview des Monats“ erläutert der Autor des Reports, Prof. Wolfgang Greiner, einige neuralgische Punkte bei der Nutzenbewertung von Arzneimitteln.

„Ein Zusatznutzen im Sinne des Verfahrens entspricht nicht zwangsläufig einem Zusatznutzen im Sinne der Versorgung“, haben Sie bei der Vorstellung des Reports gesagt. Welche versorgungsrelevanten Vorteile neuer Medikamente sollten künftig bei der Nutzenbewertung ebenfalls berücksichtigt werden?
Wir haben bei der Vorbereitung des AMNOG-Reports festgestellt, dass neue Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen im Schnitt genauso schnell im Verordnungsvolumen steigen wie Medikamente mit bescheinigtem Zusatznutzen. Dazu werden im Report verschiedene Ursachen diskutiert, unter anderem auch patientenrelevante Vorteile dieser Produkte, die im Rahmen der Nutzenbewertung von G-BA und IQWiG nicht berücksichtigt werden. Dazu gehört zum Beispiel die Form der Applikation – beispielsweise oral versus intravenös. Das IQWiG argumentiert, dass sich auch solche Vorteile letztlich vermittelt zum Beispiel über eine bessere Compliance in nutzenbewertungsrelevanten Endpunkten wie besseren Nebenwirkungsprofilen niederschlagen sollten. Trotzdem ist in einigen Fällen der Einbezug von Patientenpräferenzen im Rahmen des Verfahren offenbar noch nicht ausreichend berücksichtigt.
Vor allem gilt es jedoch, bereits formal einbezogene Endpunkte dem Verfahren auch in praxi besser zugänglich zu machen. Hierzu gehört zum Beispiel der Aspekt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. 71 Prozent* aller bis Mitte 2015 vorgelegten Herstellerdossiers enthalten Angaben zu diesem Endpunkt. Immerhin noch knapp die Hälfte der Hersteller leitet aus diesen Daten einen Vorteil ihres Präparates im Endpunkt Lebensqualität ab. Der G-BA schloss sich bislang jedoch nur in sieben Fallen dieser Einschätzung an, was überwiegend methodisch begründet wird. Die von G-BA und IQWiG angeführten Ablehnungsgründe wie zum Beispiel die zum Teil geringen Responsequoten auf die Lebensqualitätsfragebögen sind vor dem Hintergrund der in der Arzneimittelnutzenverordnung genannten „bestverfügbaren Evidenz“** kritisch zu hinterfragen.

Es gibt ja verschiedene Fragebögen zur Ermittlung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität...
Der bislang in den Dossiers am häufigsten verwendete Fragebogen ist der krankheitsübergreifende EQ-5D. Nach Einschätzung des G-BA ist dieses Instrument zur Anwendung im deutschen Versorgungskontext nicht geeignet. Begründet wird dies damit, dass der EQ-5D im Vergleich zu anderen generischen Instrumenten eher für Bewertungssysteme mit Kosten-Nutzen-Bewertungen geeignet sei. Diese Annahme ist falsch. G-BA und IQWiG fordern selbst immer wieder Daten zu patientenberichteten Endpunkten bzw. zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Vor diesem Hintergrund ist der Umgang des G-BA mit den Ergebnissen eines international etablierten und als eines der Standardinstrumente geltenden Lebensqualitätsmessinstrumentes wie dem EQ-5D unverständlich.

Wie relevant ist das Problem der von Kassen häufig beklagten „Mondpreise“ für Medikamente im ersten Jahr nach der Zulassung?
Zu berücksichtigen sind zwei Komponenten: Die Umsatzentwicklung neuer Arzneimittel, insbesondere in der zwölfmonatigen Phase freier Preisgestaltung, sowie die Höhe anschließend vereinbarter Rabatte, welche ab dem 13. Monat gelten. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren kann bislang kein schwerwiegendes Problem bei der freien Preisbildung festgestellt werden. Bei der weit überwiegenden Zahl neuer Medikamente sind die Umsätze im ersten Jahr noch nicht sehr groß, sondern entwickeln sich erst allmählich, also eine „normale“ Marktdurchdringung. Die sprunghafte Verordnungsentwicklung neuer Hepatits-C-Präparate unmittelbar nach Zulassung stellt unter den AMNOG-Präparaten also die Ausnahme von dieser Regel dar.
Werden alle AMNOG-Wirkstoffe berücksichtigt, für die seit Marktzugang bis zum 30.06.2015 zwei volle Beobachtungsjahre vorliegen***, erzielen nur zwei – Boceprevir und Telaprevir – im ersten Vertriebsjahr über eine Millionen Euro mehr Umsatz als im zweiten. Eine entsprechende Entwicklung ist zudem für Sofosbuvir und die Fixkombination Ledipasvir und Sofosbuvir erwartbar.
Wir haben auch das theoretische Einsparpotenzial einer Rückwirkung des verhandelten Rabattes auf die ersten zwölf Vertriebsmonate mit DAK-Daten berechnet. Es zeigt sich, dass die Wirkung des ersten Jahres mit freier Preisgestaltung eher überschaubar ist. Für die DAK-Gesundheit konnten wir ein Einsparpotenzial ermitteln, welches sich für die ersten vier AMNOG-Jahre auf gerade einmal 40 Millionen Euro aufsummiert. Anders ausgedrückt: Das potenzielle Einsparvolumen durch eine Rückwirkung des Nutzenbewertungsrabattes hätte im Jahr 2014 0,5 Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben dieser Krankenkasse entsprochen oder knapp sieben Prozent des arzneimittelbezogenen Ausgabenanstiegs von 2013 auf 2014.

Der Report widmet sich auch der Arbeit der Schiedsstelle. Welche Bilanz ziehen Sie, besteht Änderungsbedarf – und wenn ja, was sind denkbare Reformoptionen?
Der AMNOG-Report bietet neben einer wissenschaftlichen Analyse der Verfahrensergebnisse sowie der Umsetzungseffekte im Versorgungsalltag auch ein Diskussionsforum für aktuelle Streitthemen. Von den 14 abgeschlossenen Verfahren mit 11 von der Schiedsstelle festgesetzten Preisen sind nur noch zwei im Markt. Davon wird eines bald vom Markt genommen werden. Diese Zahlen machen die Brisanz des derzeitigen Schiedsamtsverfahrens deutlich und waren Grund für das diesjährige Schwerpunktthema des AMNOG-Reports. Der stellvertretende Vorsitzende der AMNOG-Schiedsstelle – Gerhardt Schulte – sowie Frau Dr. Antje Haas und Frau Dr. Anja Tebinka-Olbrich vom GKV-Spitzenverband und Prof. Dieter Paar von Sanofi-Aventis diskutieren deshalb in Gastbeiträgen aus unterschiedlicher Perspektive die bisherige Arbeit sowie die zukünftige Rolle der Schiedsstelle im AMNOG-Verfahren. Änderungsbedarf am Schiedsverfahren ergibt sich jedoch nicht nur durch die bisherige Ergebnisbilanz. Thema des Pharma-Dialogs und damit vermutlich auch des kommenden AMNOG 2.0 war, dass besonders Arzneimitteln zur Behandlung chronischer Erkrankungen regelhaft ein Zusatznutzen abgesprochen wird, gleichzeitig jedoch günstige generische Therapien als Preisreferenz dienen. Geht der Gesetzgeber dieses Thema an, ändert sich gegebenenfalls auch das Aufgabenspektrum der Schiedsstelle.

* Grundgesamtheit (n) = 84
** siehe Paragraph 5 Abs. 3 Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung
*** Grundgesamtheit (n) n = 50