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Interviews
28.10.2024

„Interview des Monats“ mit Prof. Claus Belka zu Shared Decision Making„Ein Werkzeug, mit dem wir signifikant Ressourcen sparen können“

„Auch in unserem Projekt „Bayern goes SDM“ haben wir mit Kolleginnen und Kollegen gesprochen, die befürchtet haben, ihr ärztliches Handeln bzw. ihre Kompetenz könnte in Frage gestellt werden“, berichtet Prof. Claus Belka. Der Klinikdirektor erklärt, welche Hindernisse der Implementierung des Konzepts Shared Decision Making (SDM) noch im Wege stehen und warum sich die Umstellung trotzdem auszahlt.

Bei Ihrem Projekt soll mit den sechs bayerischen Universitätskliniken erstmals in einem ganzen Bundesland systematisch Shared Decision Making (SDM) implementiert werden. Warum fristet das Konzept hierzulande bisher noch ein Schattendasein? 
SDM ist in Deutschland in den letzten 20 Jahren bis auf wenige Ausnahmen ein wissenschaftliches Thema gewesen. Es ist kaum zu glauben, aber die Arzt-Patienten-Beziehung in Deutschland hat sich in dieser Zeit wenig verändert: Die Ärzte sind in diesen Situationen oftmals die, die als Experten sprechen. Die Patienten verhalten sich dagegen häufig passiv und hören in erster Linie nur zu. Aus Sorge heraus, unbequem zu sein, trauen sie sich nicht, Persönliches einzubringen. Ich habe auch schon erlebt, dass Patienten versuchen, Rücksicht darauf zu nehmen, dass es im klinischen Alltag an Zeit mangelt.

Den Mangel an Arztzeit gibt es tatsächlich.
Ja, das stimmt. Das ist eines der strukturellen Hindernisse, die SDM bremsen: In vielen Sprechstunden herrscht Zeitdruck und ausführliche Gespräche werden nicht oder nicht angemessen vergütet. Hinzu kommt, dass die Implementierung einer neuen Vorgehensweise wie SDM am Anfang immer erstmal Zeit kostet. Oft bedeutet das das Aus. Dabei spart man am Ende mit SDM Zeit, etwa weil Gespräche strukturierter sind und Folgetermine mit immer neu aufkommenden Fragen häufig unnötig werden.

Wie stark hemmt dieser Mehraufwand? 
Wenn etwas sinnvoll ist, scheue ich den Aufwand nicht. Veränderung kostet aber nun mal auch Kraft und Zeit. Patientenorientierung in der Versorgung ist wichtig und SDM ist ein Werkzeug, mit dem wir im Gesundheitssystem signifikant Ressourcen sparen können. Unzufriedene Patienten kosten mehr Zeit und mehr Geld. Kaum Beachtung findet auch die Tatsache, dass Therapien etwa in der Onkologie zum Teil sehr eingreifend sind und nur mit Mitwirkung vollständig wirken. Patienten, die aufgrund mangelhafter Einbindung in die Therapieentscheidung eine Behandlung abbrechen, schaden sich nicht nur selbst, sondern auch dem Gesundheitssystem. Der initiale Mehraufwand für SDM wird somit sekundär mehr als deutlich belohnt.

Wie sehen diese Vorteile in der praktischen Arbeit aus?
Eine bessere Kommunikation führt zu einer besseren Behandlung! SDM ermöglicht das. Immer wenn wir unsere Patienten aktiv mit einbeziehen und sie mit ins Boot holen, stärken wir die Arzt-Patienten-Beziehung – egal, ob es um eine Tumortherapie geht oder darum, ob eine Patientin ein Medikament lieber morgens oder abends einnimmt. Hier kommen auch die Angehörigen ins Spiel. Ich habe erstaunliche Gesprächsverläufe erlebt, wenn auch deren Perspektive gehört wird. SDM heißt auch, über alle möglichen Behandlungsoptionen zu sprechen und die Vor- und Nachteile aufzuzeigen. Das ist weit mehr als „nur“ die klassische Aufklärung nach einer Therapieentscheidung. Entscheiden sich Patienten dann beispielsweise für die Strahlentherapie, wissen sie genau, was auf sie zukommt, und halten auch die ein oder andere belastende Zeit besser aus. Den Satz „Das hat mir so aber keiner gesagt“ hören wir immer seltener.

Wie reagieren die Patienten auf SDM? 
Manche sind erstaunt darüber, warum mir ihre Sicht auf die Dinge wichtig ist. Viele zeigen offen ihre Freude und fühlen sich gesehen. Das schafft Vertrauen. Ich habe mir immer schon viel Zeit für Patientengespräche genommen, denn wir Strahlentherapeuten begegnen vielen Vorbehalten: Strahlen sind ja per se erst einmal gefährlich. Aber auch ich habe von dem SDM-Training profitiert und mein Gesprächsmuster ist an einigen Stellen durchaus aufgerüttelt worden. Diese Elemente habe ich dann überdacht und sie umgestellt.

Sie haben den Zeitmangel angesprochen. Was sind weitere Herausforderungen bei der Implementierung von SDM? 
Es muss mehr darüber informiert werden, was SDM eigentlich ist. Auch bei unserem Projekt „Bayern goes SDM“ haben wir mit Kolleginnen und Kollegen gesprochen, die befürchtet haben, ihr ärztliches Handeln oder ihre Kompetenz könnten in Frage gestellt werden. Das passiert sicher nicht. Das Einbeziehen des Patienten wirft aber ein neues Licht auf die Gesamtsituation, wodurch eine andere Therapieentscheidung sinnvoller erscheinen kann als die ursprünglich präferierte. Die größte Herausforderung sehe ich aber in der sektorenübergreifenden Kommunikation. Wir müssen versuchen, besser zu verstehen, wann und wo eine Entscheidung getroffen wird und wer daran beteiligt ist. Viele Patienten werden von einem niedergelassenen Kollegen zur Therapie überwiesen. Oft ist unklar, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist und ob der Patient alle möglichen Optionen kannte. Immer wieder erlebe ich auch, dass sich ein Patient nach dem Gespräch in der Klinik doch für eine andere Therapie entscheidet. Davon abgesehen gibt es überall im Klinikalltag zahlreiche weitere Herausforderungen, wie die emotionale Belastung der Betroffenen, das Vermitteln von komplexen medizinischen Inhalten, Unterschiede in der Gesundheitskompetenz und Sprachbarrieren, die die Arbeit erschweren.

Welche Voraussetzungen sind notwendig, um SDM reibungslos umzusetzen? 
Wir haben an manchen Tagen, an denen ein zweistündiges Ärztecoaching für vier Ärztinnen und Ärzte stattgefunden hat, für diese Zeit den Ambulanzbetrieb teilweise runtergefahren. Die Pflege muss ebenfalls eingebunden werden. Bei uns hat meine Kollegin Serap Tari, die das Modellprojekt für das Bayerische Zentrum für Krebsforschung in Bayern leitet, von Anfang an mit den Pflegedirektoren der beteiligten Universitätskliniken das Thema „Decision Coach“-Training und Information für die Pflegekräfte besprochen und auf den Weg gebracht. In einer Klinik kann die Umsetzung nur funktionieren, wenn die Chefetage mitmacht.

Hinweis in eigener Sache: Das kommende Magazin von Gerechte Gesundheit beschäftigt sich ausführlich mit dem Thema Shared Decision Making. Es erscheint im November.

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