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Interviews
29.12.2011

Interview des Monats mit Dr. Rainer Hess Über Priorisierung im Gesundheitswesen

Niemand will zugeben, dass Prioritäten auch im Gesundheitswesen gesetzt werden – weder bei medizinischen Leistungen noch bei der Bearbeitung von Themen. Der Begriff ‚Priorisierung’ an sich scheint tabu. Stattdessen wird so getan, als ob alles gleichzeitig umgesetzt und alles allen zur Verfügung gestellt werden könnte. Der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) beantwortet Fragen zur Priorisierung.


Herr Dr. Hess, warum halten Sie eine Priorisierung der Arbeitsweise im G-BA für geboten?

Dr. Rainer Hess: Es geht dabei nicht um die Bearbeitung von Anträgen der Trägerorganisationen und der Patientenvertretungsorganisationen, die in den jeweiligen Unterausschuss eingebracht und dort zu einer Beschlussvorlage für das Plenum des G-BA vorbereitet werden. Es geht vielmehr um die Priorisierung von Versorgungsproblemen als Grundlage für die Einbringung von Anträgen in das Plenum, um auf Grund einer vorher durchgeführten Analyse des jeweils ausgewählten Versorgungsproblems dann erst abgestimmte Aufträge an die Unterausschüsse zur Lösung dieses Problems zu erteilen.

Warum wird die Ausrichtung auf Versorgungsnotwendigkeiten jetzt erst wichtig?

Hess: Es gab einen vergleichbaren gesetzlichen Auftrag an den im Jahr 2000 erstmals sektorenübergreifend eingerichteten Koordinierungsausschuss zur Bewertung von Unter-, Über- und Fehlversorgung im GKV-System. Dieser hatte zu einer Analyse der Versorgungssituation in ausgewählten Bereichen geführt, scheiterte aber in der Erarbeitung gemeinsamer Lösungsvorschläge. Dem G-BA, in den die Vorgängerausschüsse im Jahr 2004 integriert wurden, ist ein vergleichbarer Auftrag expressis verbis nicht mehr erteilt worden.

Ihr Versuch einer Priorisierung von Themen über die Versorgungsforschung ist vom G-BA auf die lange Bank geschoben worden, vertagt auf das Jahr 2012. Sie selbst werden dann im Ruhestand sein. Ruht dann auch das Thema?

Hess: Ich hoffe, dass die Notwendigkeit einer sektorenübergreifenden Herangehensweise an Versorgungsprobleme auf der Basis einer sorgfältigen Analyse der Versorgungssituation als Grundlage einer darauf abgestimmten Antragstellung im G-BA nach dem Abflauen des durch AMNOG und Versorgungsstrukturgesetz bedingten extremen Arbeitsaufkommens doch noch erkannt wird. Die im Versorgungsstrukturgesetz allerdings teilweise auf Druck der Trägerorganisationen des G-BA wieder zurückgenommene sektorenübergreifende Ausrichtung der Aufgabenstellung des G-BA zwingt meines Erachtens zu einer solchen sektorenübergreifenden Priorisierung und Koordinierung der Arbeit auf der Grundlage sektorenübergreifender Analysen von Versorgungsproblemen.

Warum ist Priorisierung im Gesundheitswesen immer noch ein Tabu?

Hess: Die Priorisierung, die ich meine, betrifft die Ausrichtung der Arbeit des G-BA. Die Priorisierung, die Sie vermutlich meinen, betrifft die von der Ärzteschaft angestoßene Diskussion um eine Reduzierung des Leistungsspektrums der GKV nach Kriterien, die sich auf die Schwere der Erkrankung beziehen, um langfristig die Finanzierbarkeit einer solidarischen GKV gewährleisten zu können. An einer solchen Diskussion beteilige ich mich erst dann, wenn in deren Vordergrund die Vermeidung medizinisch nicht evidenzgesicherter und vor allem im Einzelfall medizinisch nicht indizierter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden steht. Davon sind wir aber noch weit entfernt.