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Interviews
25.01.2023

Interview des Monats mit Prof. Frank DörjeArzneimittelengpässe – „ein untragbarer Zustand!“

Prof. Frank Dörje ist als Leiter der Apotheke des Universitätsklinikums Erlangen der Umgang mit Arzneimittelengpässen seit vielen Jahren vertraut. Derzeit gebe es in der klinischen Versorgung bei mehr als dreihundert Produkten einen Engpass – „ein untragbarer Zustand“, betont er. Das Zuschlagskriterium „billigst“ sei daher bei Lieferverträgen zwischen Industrie und Krankenhäusern „obsolet“, sagt der Experte im „Interview des Monats“. Für ihn geht es bei den Engpässen auch um die Grundsatzfrage, was es der Gesellschaft wert ist, die Produktion von versorgungskritischen Arzneistoffen zu einem erheblichen Anteil wieder in Europa durchzuführen. Dies habe auch etwas mit Daseinsfürsorge und Unabhängigkeit zu tun, meint Dörje.

Über die Knappheit von Fiebersäften wurde in den Medien ausführlich berichtet. Außerdem haben die Onkologen Alarm geschlagen. In welchen Medizinbereichen sind Sie in Ihrer Arbeit mit Engpässen bei Arzneimitteln derzeit besonders konfrontiert? Wo sehen Sie künftige Gefahren einer Unterversorgung?
Danke für Ihre Frage, die bedauerlicherweise seit bereits mehr als einem Jahrzehnt eine sehr relevante für unser Gesundheitssystem, im ambulanten und im Krankenhausbereich gleichermaßen, ist. Aktuell aufgrund besonderer Infektionslagen bei Atemwegserkrankungen im Vordergrund stehend sind die besagten Versorgungsengpässe bei fiebersenkenden Säften mit den Wirkstoffen Paracetamol und Ibuprofen, ebenso wie Engpässe in der Versorgung mit Basisantibiotika wie Amoxicillin, Cotrimoxazol und weiteren Penicillinen. Und ja, auch im onkologischen Bereich gibt es weiterhin Versorgungsengpässe, beispielsweise in der generischen Versorgung mit Folinsäure aber auch nab-Paclitaxel. Insgesamt sehen wir uns in der klinischen Versorgung zurzeit bei mehr als dreihundert Produkten mit Arzneimittellieferengpässen konfrontiert. Ein untragbarer Zustand!

Was sind die wichtigsten Strategien der Krankenhausapotheken, damit die Engpässe nicht das Patientenbett erreichen?
Die Krankenhausapothekerinnen und -apotheker leisten seit Jahren eine hochprofessionelle Arbeit, damit Versorgungs- und Lieferengpässe bei Arzneimitteln nicht zu einem wirklichen Patientenschaden führen. Oft gibt es bei einem Ausfall eines Produktes therapeutische gleichwertige Alternativen, die dann in enger Abstimmung mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten des Krankenhauses und durch die Arzneimittelkommissionen der Krankenhäuser bestimmt zu einem Wechsel der Therapieschemata führen. Bei einem regierungsamtlich festgestellten Versorgungsmangel ist der erleichterte Direktimport aus dem Ausland möglich. Grundsätzlich – so auch geübte Praxis in der Corona-Pandemie – werden außerdem die Lagerbestände für versorgungskritische Arzneimittel erhöht. In einigen Fällen, bei Vorliegen absoluter Versorgungengpässe, kann auch die Eigenherstellung von Arzneimitteln in Krankenhausapotheken dem Versorgungsmangel wirksam entgegenwirken: so zum Beispiel in der Corona-Pandemie bei Midazolam i.v. und Cotrimoxazol-Kps geschehen oder heute bei der Produktion von Fiebersäften. In den Niederlanden gibt es beispielsweise ein Netz von Schwerpunkt-Herstellungs-Krankenhausapotheken, um auch bei Versorgungsnotlagen dem Mangel bei versorgungskritischen Arzneimitteln entgegenwirken zu können.

Gesundheitsminister Lauterbach hat Eckpunkte vorgelegt, um den Engpässen bei Arzneimitteln zu begegnen. Wie bewerten Sie die geplanten Maßnahmen – was halten Sie für zielführend, was nicht?
Der Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker, kurz ADKA, arbeitet seit Jahren auf nationaler Ebene im früheren Jour-fixe, heute: Beirat zu Liefer- und Versorgungsengpässen beim BfArM, sehr engagiert mit. Bereits im Jahr 2019 hat dieses Gremium sehr deutliche Empfehlungen für die Berücksichtigung der allgemeinen Arzneimittel-Liefersicherheit bei Lieferverträgen zwischen Industrie und Krankenhäusern ausgesprochen, das heißt mit anderen Worten das Zuschlagskriterium: „billigst“, ist obsolet!
Die ADKA hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sie regulatorische Vorgaben, wie die erweiterte Arzneimittel-Lagerhaltungsverpflichtung, auch für pharmazeutische Unternehmen ebenso wie eine Meldepflicht bei Arzneimitteln-Lieferengpässen für versorgungskritische Arzneimittel dringend befürwortet. Sehr wesentlich ist auch das Betrachten der Lieferketten und die geopolitische Lage bei der Arzneistoffproduktion, der Produktion von sogenannten „Active Pharmaceutical Ingredients“. Hier gilt es bei versorgungskritischen Arzneimitteln den Produktionsstandort Europa unbedingt zu stärken!

...und Ihr Urteil zu den Ideen aus dem Bundesgesundheitsministerium?
Das Eckpunktepapier vom 16. Dezember ist ausdrücklich als erster Schritt in die richtige Richtung zu begrüßen. Die Handlungsfelder „Aufhebung von billigst Rabattverträgen“  – zunächst bei bestimmten Arzeimitteln für Kinder und in der Onkologie bzw. Infektiologie –, „Standortstärkung zur Produktion von Arzneistoffen in Europa“ – zunächst Onkologika und Antibiotika – und „bessere Erkennung von Versorgungsengpässen“ – Stärkung des BfArM und des Beirates – sind meines Erachtens richtig gewählt. Die Praxis muss nun zeigen, ob die Maßnahmen die gewünschte Wirkung haben.

Union und Krankenkassen fordern einen Beschaffungsgipfel für Medikamente. Was halten Sie von einer solchen Initiative, ist das sinnvoll oder Zeitverschwendung?
Grundsätzlich ist es immer gut, wenn die wesentlichen handelnden Parteien und Beteiligten sich in einer Sachdiskussion zur Lösung von Problemen zusammensetzen. Hierzu zählen ganz wesentlich natürlich die Patientinnen und Patienten sowie die ihre Interessen vertretenden Verbände.
Nach meiner langjährigen Erfahrung in der Gesundheitswirtschaft im Krankenhaus ist die grundlegende Lösung der Arzneimittel-Lieferproblematik sehr wohl auch eine gesellschaftspolitische Frage. Sie lautet: Wieviel ist es uns wert, dass wir unabhängig von „billigst“ Weltmarktperspektiven, die Produktion von zumindest versorgungskritischen Arzneistoffen zu einem erheblichen Anteil wieder in Europa durchführen und diese nicht oligopol- oder gar monopolistisch in China oder Indien stattfindet. Diese Frage hat auch etwas mit Daseinsfürsorge und Unabhängigkeit zu tun. Sie ist mehr denn je in der heutigen Zeit hochrelevant.