Direkt zu:

Interviews
17.11.2023

Interview des Monats mit Joachim SproßPatientenlotsen: „Vom Projektstatus in die Normalversorgung“

Auf dem „Tag der Patientenlotsen“ macht sich Joachim Sproß, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke, dafür stark, Patientenlotsen innerhalb des Versorgungssystems sektorübergreifend einzurichten. Deren koordinierende Tätigkeit stärke gerade in der Versorgung von chronischen, seltenen und komplexen Erkrankungen Therapieerfolge, meint er. Die Hintergründe erläutert er im „Interview des Monats“.
 

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag angekündigt, Patientenlotsen regelhaft zu implementieren. Was hat sich bisher getan?
Im Koalitionsvertrag ist verankert, dass der Pfad für die Patientenlotseninstallierung erarbeitet werden soll. Daher haben wir auf fachlicher Ebene den Patientenlotsen definiert, eingeordnet und sinnvoll im System positioniert. In den vielen laufenden Lotsenprojekten wird die Praxistauglichkeit gezeigt. Das ist die Grundlage für den gesellschaftspolitischen Prozess, die positiven Effekte über seriöse Evaluationen aufzuzeigen. Zudem haben wir ein lebendiges Netzwerk von Stakeholdern, den wesentlichen Akteuren, geschaffen. Gemeinsam mit der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe, dem Bundesverband Managed Care und der Deutschen Gesellschaft für Care- und Casemanagement haben wir den Tag der Patientenlotsen durchgeführt – über 160 Anmeldungen. Das Symposium zeigt unter anderem das große Interesse, auch von Seiten der möglichen Kostenträger. Es engagieren sich Kommunen, Länder, Krankenkassen, Pharmaunternehmen, Stiftungen sowie weitere Organisationen. Die Thematik der Patientenlotsen hat mittlerweile auch auf bundespolitischer Ebene große Aufmerksamkeit erlangt. Dieser politische Prozess zur Integration der Patientenlotsen in das Gesundheitssystem ist initiiert.

Was versprechen Sie sich von den Lotsen konkret?
Das komplexe Gesundheitssystem stellt eine Überforderungssituation für Patienten da. Zusätzlich sind besonders Patienten mit chronischen, seltenen Erkrankungen in einer extremen Belastungssituation. Um Diagnosen präzise sowie frühzeitig zu stellen, Therapien gezielt zu beginnen und die Adhärenz, also Patientenbindung an die Behandlung, zu verbessern, ist das Lotsensystem die effektivste Unterstützungsform. Am Ende profitieren durch ein gutes Koordinieren des Versorgungspfades alle Beteiligten: der Patient, das Behandlungssystem sowie der Kostenträger. Sehr gut verdeutlichen wir das bei den Patientenlotsen in Neuromuskulären Zentren. Durch die wegweisende Lotsentätigkeit erfolgt eine aufeinander abgestimmte intersektorale Versorgung durch die Neurologie, Pulmologie, Kardiologie, Orthopädie und weitere notwendige Fachrichtungen. Zudem geht der Unterstützungsbedarf aus dem SGB V hinaus. Pflege, Teilhabe, Rehabilitation sind wesentliche Felder für die Lotsentätigkeit.

Ein aktuelles Rechtsgutachten des Sozialrechtsexperten Prof. Gerhard Igl zeigt, welche Möglichkeiten im Sozialleistungssystem für die Installierung von Patientenlotsen bereits gegeben sind. Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus dem Gutachten?
Das Gutachten ist eine Grundlage für den vorgesehenen und im Koalitionsausschuss geforderten Pfad für die Installation der Lotsen ins Regelsystem. Es nennt die konkrete Bedarfsgruppe der Betroffenen von Multimorbidität und chronischer Erkrankungen. Das Gutachten beschreibt Leistungsinhalte und zeigt Möglichkeiten einer rechtlichen Verortung in der Sozialgesetzgebung. Schon jetzt geben Regelungen im SGB V Rechtsgrundlagen für Patientenlotsen. Auch auf Kooperationsformen weist das Gutachten hin, Modelle der Zusammenarbeit von Leistungsträgern in der Erbringung von Lotsentätigkeiten werden skizziert. Das genau ist der Pfad, von dem der Koalitionsausschuss spricht. Nun muss der nächste Schritt in die geregelte Versorgung erfolgen.

Welche Hürden und Fallstricke muss man bei der Etablierung von Patientenlotsen beachten?
Jede neue Antwort auf Problemsituationen und jede Veränderung erzeugen zunächst Skepsis. Gerade das Gesundheitssystem erfordert derzeit einen Transformationsbedarf, der für die beteiligten Akteure nur mit einer enormen Kraftanstrengung vollbracht werden kann. Die großen Vorteile beim Patientenlotsen sind die bereits umfangreich gemachten positiven Erfahrungen. Der Experimentiermodus wird abgeschwächt durch mehr als 50 Lotsenprojekte, in denen jetzt schon indikationsübergreifend erfolgreich gearbeitet wird. Im Ergebnis müssen wir jetzt vom Projektstatus in die Normalversorgung kommen, sonst laufen wir Gefahr, dass sich bei vielen Projekten die vorhandenen Strukturen auflösen bei Beendigung der momentanen temporären Projektfinanzierung. Und natürlich ist das Thema Finanzierung im Fokus. Die Finanzierung bleibt dabei ein zentraler Aspekt. Durch Koordinierung der Versorgungsprozesse wird nicht nur eine Reduzierung des Personalaufwands angestrebt, sondern auch eine Verbesserung der Therapieerfolge, was wiederum positive wirtschaftliche Auswirkungen hat

Gibt es Länder, von denen wir in Sachen Lotsen lernen können?
Hierbei ist wichtig festzustellen, dass die deutsche Gesundheitsversorgung ein hohes Qualitätsniveau und eine umfassende fachliche Expertise aufweist. Sie ist mit modernsten medizinischen Standards ausgestattet und bietet Patienten eine breite Palette diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten. Der konkrete Versorgungspfad ist dabei maßgeblich aufgebaut nach der Architektur von Refinanzierungsansätzen, was zusammengenommen zu einer beträchtlichen Komplexität führt. Vor diesem Hintergrund stellt das Modell des Patientenlotsen, welches auf den Prinzipien des Case Managements beruht, ein unverzichtbares Werkzeug zur Navigation und Unterstützung innerhalb dieses komplexen Systems dar. Während andere Länder wie zum Beispiel die USA interessante Ansätze in ihren Lotsenprogrammen verfolgen, muss berücksichtigt werden, dass Vergleiche aufgrund der unterschiedlichen kulturellen, wirtschaftlichen und systemischen Gegebenheiten nur bedingt aussagekräftig sind. Die Spezifika des deutschen Systems erfordern maßgeschneiderte Lösungen, wie sie das Patientenlotsenmodell bietet.