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24.09.2024

„Interview des Monats“ mit Dr. Moritz Völker„Es braucht eine mutige Vision der Zukunft“

„Wir können und müssen der Bevölkerung ehrlich sagen, dass wir uns über Jahrzehnte antrainierte Verhaltensweisen ziemlich zügig abgewöhnen müssen“, appelliert Dr. Moritz Völker. Der Notfallmediziner fordert eine ehrliche Kommunikation über die anstehende Versorgungskrise, mutige Zukunftsvisionen und konsequente Reformen.

Auf der Jahrestagung von Pharma Deutschland kritisieren Sie mangelnde Ehrlichkeit über die anstehende Versorgungskrise. Wer muss dafür in die Pflicht genommen werden: Nur Politiker oder auch die Akteure des Systems?
In erster Linie sind das natürlich die Politiker. Sie haben den Auftrag, das Beste für unser Land und die Bevölkerung zu tun. Dafür müssen sie ehrlich sein und entsprechend kommunizieren. Die Politik muss der Bevölkerung, aber auch den Akteuren und Professionals im System – idealerweise als Ergebnis eines konstruktiven Dialogs – eine Richtung vorgeben, wohin die Reise geht und wie wir diese bestehen können. Es braucht eine mutige Vision der Zukunft. Dafür müssten Politiker langfristig denken und handeln. Das wird nicht nur, aber auch, aus demographischen Gründen und vor dem Hintergrund der nächsten Wahl leider zu wenig getan und spielt in meiner Wahrnehmung im täglichen Geschäft eher eine untergeordnete Rolle. Aber natürlich sind auch die Akteure des Systems in der Pflicht, Wahrheiten nicht auszuklammern. 

Wie konkret?
Wer den Anspruch hat, die Versorgung mitzugestalten, sollte auch den Mund aufmachen und sich zutrauen, gesamtsystemisch und nachhaltig zu denken. Wir können und müssen der Bevölkerung ehrlich sagen, dass wir uns über Jahrzehnte antrainierte Verhaltensweisen ziemlich zügig abgewöhnen müssen. Diese Wahrheit schmerzt und ist unpopulär – alles andere ist aber unredlich und führt zu einer enormen Generationenungerechtigkeit, wenn wir das einfach aussitzen, „solange es noch irgendwie geht“. Diese Ungerechtigkeit findet übrigens in beide Richtungen statt. Es sind die „Baby-Boomer“, die von der Versorgungskrise am härtesten getroffen werden, während die in der Versorgung Aktiven vor allem viel Arbeit bei zunehmend schlechten Arbeitsbedingungen vorfinden werden.

Sie warnen vor einer „unkontrollierten und ungerechten Versorgung“. Können Sie Beispiele dafür nennen? An welchen Stellen ist die Versorgung bereits jetzt unkontrolliert und ungerecht?
Ungerechtigkeit ist in erster Linie eine Frage der eigenen Wahrnehmung von Gerechtigkeit und dem, was mir zusteht. Zurzeit glaubt jeder, ihm würde alles zu jeder Zeit zustehen – dafür zahlt man schließlich. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, wo wir herkommen und was die Menschen eigentlich seit Jahrzehnten gewohnt sind. Schaut man aus einigen anderen Ländern auf unser System, ist das natürlich noch immer ein Schlaraffenland und unglaublich gerecht und leistungsfähig – das werden bei einem „weiter so“ zukünftig wohl immer weniger Länder über uns sagen…

Lassen Sie uns das „unkontrolliert und ungerecht“ konkret benennen.
Grundsätzlich beginnt das schon seit Jahren schleichend und wird immer mehr im täglichen Erleben sichtbar. Die Bevölkerung stimmt schlussendlich mit den Füßen ab. Wenn die Patientinnen und Patienten keine Termine für eine Untersuchung oder einen sonstigen Termin bekommen, wählen sie den Notruf und lassen die vermeidliche Hilfe einfach zu sich nach Hause kommen – in der Hoffnung, dass es dann ins Krankenhaus geht und die „To-Do-Liste“ abgearbeitet wird. In der Notaufnahme erleben wir gerade die Erosion des ambulanten Bereichs. Das ist ein wenig wie ein Dominoeffekt. Ausgangspunkt ist eine in weiten Teilen medizinisch uninformierte Bevölkerung. Dies überlastet den ambulanten Bereich, der die Last irgendwann nicht mehr bewältigen kann, schlussendlich schwappt es dann in den stationären Bereich weiter. Hier lesen wir dann ab und an auch in der breiten Presse von vollen Krankenhäusern und überfüllten Notaufnahmen. Der Tag wird kommen, an dem die Betten voll sind, alle Ärztinnen und Ärzte beschäftigt oder sonstige Ressourcen einfach nicht verfügbar sind. Ab dann wird es gänzlich unkontrolliert und vermutlich auch ungerecht zugehen. Wenn wir alle im System Tätigen mit Unnötigem belasten – sei es unnützes Papier, das ausgefüllt werden muss, oder Patienten, die schlicht „falsch“ im System sind, – dann wird sich um den nächsten, der es dringend nötig hat, niemand mehr adäquat kümmern können. Das wäre dann der Beginn der wahren Versorgungskrise.

Was muss getan werden, um die Krise abzumildern? Oder hätten Sie Ideen, wie sie sich doch noch verhindern lässt?Nachdem das Problem erkannt, verinnerlicht und ausgesprochen ist, muss ohne Denkverbote nach der Lösung gesucht werden. Ein Erkenntnisproblem haben wir nicht. Wir wissen, an welchen Stellen es hakt, und es gibt sowohl in Deutschland als auch international Lösungen. Wir dürfen uns nicht darauf versteifen, nur eine allumfassende Lösung umzusetzen – die hat niemand. Wir müssen aber groß denken und endlich mal konsequent anfangen, das zu kommunizieren und uns als Land hinter einer Vision für die Zukunft zu vereinen. Dazu sind in erster Linie die Politik und die Selbstverwaltung gefragt – und dann auch die Bevölkerung.

Wie steht es mit konkreten Lösungsansätzen?
Es gibt ganz unkomplizierte Lösungen, wie man einzelne Prozesse beschleunigen kann. Es gibt riesiges Potenzial in unserer Bürokratie: Anträge, Formulare, Berichterstattung und Dokumentation müssen stark reduziert werden. Das könnte dann schon 20 bis 40 Prozent allein der Arztzeit freisetzen – das wäre bereits etwas. Dann braucht es massive Investitionen in die digitale Infrastruktur, um unser System zu vernetzen und Daten fließen zu lassen. Diagnosen, Medikamente, Allergien etc. müssen überall verfügbar sein. 

Wo besteht weiterer Handlungsbedarf?
Primär muss der Bereich der Prävention massiv gestärkt werden – das hilft, den Bedarf nach Medizin an sich zu reduzieren. Dann muss der ambulante Bereich – unser erstes Bollwerk der Versorgung – gestärkt werden. Weniger durch Zwänge wie Hausarztprogramme als vielmehr durch Entschlackung der Administration und Unterstützung bei der Gründung. Zuletzt müssen die Krankenhäuser zukunftsfit gemacht werden – und dazu brauchen wir keine 1.700 Kliniken, sondern weniger und diese dafür gut ausgestattet. Insgesamt müssen die Patientinnen und Patienten deutlich effizienter durch das System geleitet werden. 

Wie optimistisch sind Sie, dass das klappt?
Bekommen wir das alles in den nächsten zehn Jahren hin, besteht Hoffnung. Machen wir im eingeübten „Deutschlandtempo“ weiter, wird es richtig unangenehm.

 

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