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Interviews
05.12.2013

Interview des Monats mit Prof. Thomas Schramme „Die Frage nach dem Wert der Gesundheit“

Am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld fand kürzlich die Auftaktveranstaltung der Forschergruppe „Normative Aspekte von Public Health“ statt. Bei den Vorträgen und Diskussionen ging es vor allem um Fragen von Gleichheit und Freiheit. Im Interview des Monats haben wir einen der beiden Forschungsgruppenleiter, Prof. Thomas Schramme von der Universität Hamburg, zur Agenda der Wissenschaftler befragt.

Was versprechen Sie sich davon, normative Aspekte von Public Health zu erforschen, welchen konkreten Themen wollen Sie sich widmen?

Schramme: Die Gesundheit der Bevölkerung zu befördern erscheint häufig als nicht sinnvoll hinterfragbarer Zweck des politischen Handelns. Welche Maßnahmen dieses Ziel erreichen, erscheint dann nur noch als eine empirisch zu klärende Frage. Beim genauen Hinsehen zeigt sich aber, dass dabei verschiedene normative Annahmen eingehen, die wir in der interdisziplinären Forschungsgruppe analysieren wollen. Dabei handelt es sich in erster Linie – wenn auch nicht ausschließlich – um Fragen der sozialen Gerechtigkeit, etwa in Bezug auf festzustellende Ungleichheiten im Gesundheitsstatus verschiedener Bevölkerungsgruppen, sowie um Probleme bei der Steuerung der Lebensumstände und gesundheitsrelevanten Entscheidungen von Bürgern durch staatliche Maßnahmen. Plakativ gesprochen beschäftigen wir uns vorrangig mit den Themen Gerechtigkeit und Freiheit. Das sind natürlich immer noch recht abstrakte Themen, aber so ist nun einmal häufig die Situation, wenn man normative Fragen stellt. Wir lassen uns aber in den gemeinsamen Diskussionen immer durch konkrete Beispiele informieren, etwa Anreizsysteme in der Früherkennung.

Die Arbeitsgruppe will sich unter anderem mit der Frage beschäftigen, was uns die Gesundheit wert ist und ob Eingriffe in die individuelle Freiheit zum Zweck der Gesundheitsförderung gerechtfertigt sind. Wie nähern Sie sich einem solch komplexen Thema?

Schramme: Die Frage des Werts der Gesundheit kann empirisch untersucht werden, etwa wenn man die gesundheitsrelevanten Entscheidungen von Bürgern erforscht. Aber auch in philosophischer Hinsicht kann man erörtern, was Gesundheit überhaupt ausmacht und welchen Stellenwert sie im Zusammenhang mit Fragen des Wohlergehens und des guten Lebens hat. Dieses Problem ist viel komplexer in seiner Struktur und wird wohl kaum jemals allgemeinverbindlich beantwortet werden können. Gleichwohl ist es wichtig, auch bei Themen, die der politischen Entscheidung bedürfen, deren Komplexität aufzuzeigen. Darin scheint mir gerade der Wert der akademischen Diskussion zu liegen – ein Wert, der in der Öffentlichkeit und in der Politik leider gerne unterschätzt wird.
Die Frage der Eingriffe in die individuelle Freiheit wiederum erfordert neben naheliegenden rechtlichen Erörterungen die Analyse des Konzepts der Freiheit selbst. Auch hier sind Probleme gegeben, die insbesondere in einer interdisziplinären Zusammenarbeit fruchtbar thematisiert werden können. Es zeigt sich beispielsweise, dass sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber bestehen, was zu einer wirklich freien Entscheidung benötigt wird, etwa inwiefern wir frei von werbenden Einflüssen sein müssen. Insbesondere wenn Menschen ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, suchen Beobachter gerne nach verzerrenden Einflüssen auf deren Handeln. Doch es scheint keineswegs ausgemacht, dass vermeintlich irrationale Entscheidungen nicht frei getroffen sein können.
Wenn wir uns noch nicht einmal einig sind, wann jemand frei entscheidet, ist es umso schwieriger zu bestimmen, wann Eingriffe begründet sein können. Meine persönliche Meinung dazu ist, dass sich vermehrt in der Debatte eine Haltung findet, wonach „ungesunde“ Entscheidungen per se als unfreiwillig gelten sollten – dies lehne ich ab. Letztlich sind wir damit dann wieder bei der Frage nach dem Wert der Gesundheit.

Wie steht es mit der praktischen Verwertbarkeit Ihrer Arbeit – inwiefern könnten die Forschungsergebnisse die konkrete Versorgung beeinflussen?

Schramme: Wir haben nicht den Anspruch, in dieser Weise, also in Bezug auf die konkrete Versorgung, Einfluss zu nehmen. Das wäre letztlich auch vermessen, da die Gestaltung der Versorgung und anderer sozialstaatlicher Maßnahmen, die einen gesundheitsbezogenen Aspekt haben, Aufgabe des politischen Souveräns ist.
Es fällt aber auf, dass viele Diskussionen in der Öffentlichkeit nicht besonders vernunftgeleitet und oft ohne Angabe von Argumenten ablaufen. Entweder wird bei jeder Public Health Maßnahme gleich der Ausbruch der Gesundheitsdiktatur verkündet oder es wird jede Gesundheitsungleichheit skandalisiert und nach dem Gesetzgeber gerufen. Die Sache ist aber recht kompliziert – schon die empirischen Daten der Epidemiologie sind nicht so neutral, wie sie gerne verkauft werden, denn natürlich spielen bei der Feststellung von Korrelationen normative Grundannahmen, etwa in Form der Wahl von Vergleichsmaßstäben, eine Rolle. Inwiefern Gesundheitsungleichheiten wirklich den Umständen geschuldet und nicht auf verschiedene Wertvorstellungen zurückzuführen sind, ist alles andere als einfach festzustellen.
Die Aufgabe der interdisziplinären Forschungsgruppe sehen wir entsprechend darin, einige Anstöße zu geben für eine rationalere Diskussion in der Öffentlichkeit. Dazu ist es notwendig, sich die normativen Grundlagen vor Augen zu führen und diese zu ordnen. Wir lernen hier vor Ort in Bielefeld viel voneinander. Am Ende ist es aber eine Entscheidung des politischen Gemeinwesens, wie wir den Bereich der öffentlichen Gesundheitsvorsorge gestalten wollen.