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Interviews
25.06.2015

Interview des Monats mit Prof. Marlies Ahlert „Gebot der Gleichbehandlung genießt hohen Wert“

Berlin (pag) – Wie steht es um die Bereitschaft, Gesundheitsleistungen zu priorisieren? Sollte beispielsweise ein Nichtraucher bei einer Herzoperation einem Raucher vorgezogen werden? Die Volkswirtschaftlerin Prof. Marlies Ahlert, Universität Halle-Wittenberg, hat dazu eine repräsentative Befragung der Bevölkerung aus neun verschiedenen Ländern ausgewertet.

Frau Prof. Ahlert, Sie haben in verschiedenen Studien die Akzeptanz von Priorisierungsentscheidungen in der Gesundheitsversorgung untersucht. Wie sind Sie vorgegangen?

Prof. Ahlert: Dr. Christian Pfarr von der Universität Bayreuth und ich haben in zwei repräsentativen Studien zum einen untersucht, in wie weit die deutsche Bevölkerung bereit ist, den Zugang zu therapeutischen Maßnahmen von Eigenschaften der Patienten abhängig zu machen. Zum anderen analysierten wir, inwieweit sich die Akzeptanz in Deutschland von derjenigen in acht ausgewählten Ländern* unterscheidet. Wir haben dazu Daten des International Social Survey Programme (ISSP) verwendet, bei dem im Jahr 2011 erstmalig für dieses Programm Einstellungen der Bevölkerung zum Gesundheitswesen erhoben wurden. Unter anderem wurde in der Befragung eine hypothetische Situation geschildert, in der zwei Patienten mit vergleichbarem Gesundheitszustand die gleiche Art von Herzoperation benötigten. Die Patienten unterschieden sich durch jeweils eines von drei Charakteristika: Rauchverhalten – ein starker Raucher versus ein Nichtraucher –, Alter – 30 versus 70 Jahre alt – und Familienstand: Hat der Patient für kleine Kinder zu sorgen oder hat er keine kleinen Kinder? Die Befragten sollten in jedem der drei Fälle entscheiden, wer von beiden Patienten zuerst behandelt wird. Sie konnten sich auch dafür aussprechen, keinen Unterschied zu machen.  

Wie entschieden sich die Befragten?

Prof. Ahlert: Zunächst beobachten wir, dass die drei Kriterien auf unterschiedlich hohe Akzeptanz stoßen. Über alle betrachteten neun Länder hinweg priorisieren 47 Prozent der Befragten den Nichtraucher, 52 Prozent wollen nach diesem Kriterium niemanden bevorzugen. Es existieren sehr große internationale Unterschiede bei der Akzeptanz des Kriteriums Nichtraucher: In den USA, England und Australien liegt der Anteil der Befürworter bei über 60 Prozent, in Deutschland und der Schweiz bei 30 Prozent. Bei der Entscheidung abhängig vom Alter ist das internationale Bild homogener, hier gibt es Mehrheiten für eine Priorisierung von jungen Patienten in der Schweiz, den USA und Australien. Dieses Kriterium wird dagegen in Deutschland, England, den Niederlanden und Schweden mehrheitlich abgelehnt. Die Sorge für kleine Kinder findet international eine deutlich niedrigere Akzeptanz.
Die Antworten der Befragten sind auch davon beeinflusst, ob sie selbst über die beschriebenen Charakteristika verfügen. Nichtraucher priorisieren Patienten, die nicht rauchen, häufiger als Raucher dies tun, junge Befragte priorisieren junge Patienten häufiger als alte dies tun. Weniger unterschiedlich sind die Präferenzen im Fall der Sorge für kleine Kinder.

Warum ist die Bereitschaft zur Priorisierung in Deutschland deutlich geringer als in anderen Ländern?

Prof. Ahlert: Im internationalen Vergleich ist in Deutschland der Anteil derjenigen, die in allen drei Fragen eine Priorisierung befürworten, mit 10 Prozent am geringsten. Auf der anderen Seite ist der Anteil der Befragten, die in allen drei Fragen niemand bevorzugen möchten, mit über 45 Prozent am größten. Generell beobachten wir bei den deutschen Antworten zu den drei Fragen eine starke, mehrheitliche Tendenz zur Ablehnung von Priorisierung nach den betrachteten Patienteneigenschaften.
Wir haben untersucht, welche Beziehungen zwischen dem internationalen Antwortverhalten und bestimmten kulturellen und sozialen Wertdimensionen in den Ländern besteht. Hier scheint es eine Vielzahl von Zusammenhängen zu geben, die ich nicht pauschalisieren möchte. Die Ergebnisse deuten beispielsweise darauf hin, dass in eher individualistischen Gesellschaften wie den USA, England und Australien Priorisierung häufiger akzeptiert ist, während sie in weniger individualistischen Ländern wie zum Beispiel Deutschland eher abgelehnt wird. Generell scheint hierzulande das Gebot der Gleichbehandlung von Patienten einen hohen Wert zu genießen.   

Wie bewerten Sie den öffentlichen Diskurs zur Priorisierung von Gesundheitsleistungen hierzulande – wo besteht Verbesserungsbedarf?

Prof. Ahlert: In meiner Rolle als Wissenschaftlerin ist mir das Ziel wichtig, Beiträge zur wissenschaftlichen Aufbereitung und Diskussion des Themas Priorisierung und Rationierung im Gesundheitswesen zu leisten. Dieses Ziel habe ich unter anderem über sechs Jahre hinweg in der von der DFG geförderten Interdisziplinären Forschergruppe FOR 655 „Priorisierung in der Medizin“ in verschiedenen Teilprojekten, mit mehreren Koautoren und mit diversen Methoden verfolgt. Mein Eindruck aus diesem und anderen Forschungskontexten ist, dass der interdisziplinäre wissenschaftliche Diskurs inzwischen recht gut entwickelt ist. In der öffentlichen Diskussion scheint das Thema Priorisierung und Rationierung von medizinischen Leistungen zurzeit nicht als dringliches Problem wahrgenommen zu werden. Sollte sich die öffentliche Diskussion dem Thema zuwenden, so steht bereits eine breite Basis an wissenschaftlichen Arbeiten zur Verfügung. Die Wissenschaft hat ihre Hausaufgaben gemacht.

*US, GB, CH, NL, SE, NO, DK, AU

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