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Interviews
29.07.2015

Interview des Monats mit Prof. Dirk Arnold Wie misst man den klinischen Nutzen neuer Krebsmittel?

Berlin (pag) – Die European Society for Medical Oncology (ESMO) hat ein Instrument entwickelt, um neue Arzneimittel in der Onkologie zu bewerten. Bei der „ESMO Magnitude of Clinical Benefit Scale“ handelt es sich laut Gesellschaft um einen rationalen, strukturierten und konsistenten Ansatz zur Stratifikation des tatsächlichen klinischen Nutzens eines Medikaments. Dabei werden verschiedene Dimensionen – nicht ausschließlich das Gesamtüberleben – berücksichtigt. Wie die Skala funktioniert und ob sie auch bei der frühen Nutzenbewertung eine Rolle spielen könnte, erklärt Prof. Dirk Arnold von der Klinik für Tumorbiologie Freiburg.

Können Sie erklären, wie mithilfe der Skala der klinische Nutzen eines neuen Krebsmittels gemessen wird?

Prof. Arnold: Der Clinical Benefit Scale der ESMO ist eher ein „Orientierungsinstrument“, das innerhalb verschiedener Tumorentitäten – und mit Einschränkungen auch im Vergleich zwischen ihnen – den Nutzen einer innovativen medikamentösen Therapie untersucht. Das Instrument wurde innerhalb der Europäischen Fachgesellschaft ESMO von Onkologen für Onkologen entwickelt und nimmt stärker als andere auf den klinischen Nutzen besonderen Bezug. Der Zugewinn an Prognoseverbesserung kann in verschiedenen Dimensionen – wie Überlebenszeit, aber auch progressionsfreies Überleben und Toxizität – und Parametern der Verbesserung – wie die Hazards Ratio* einer Zulassungsstudie oder auch der Zugewinn im Vergleich der Mediane – unterschiedlich sein. Der relative „Benefit“, also der Zugewinn an Nutzen, hängt dabei sehr stark von der jeweiligen Tumorentität, der Versorgungssituation sowie den weiteren, im Verlauf noch zur Verfügung stehenden Therapieoptionen ab. Insofern wird nicht, wie bei anderen Instrumenten, ein recht „starres“ Schema angewandt, das die gleichen Kriterien in völlig unterschiedlichen Versorgungssituationen festschreibt. Vielmehr wird versucht, die unterschiedlichen Situationen zwischen den verschiedenen Tumorarten und Therapiestandards zu vereinheitlichen und eine vergleichbare Skalierung des jeweiligen Nutzens vorzunehmen.

Könnte dieses Instrument auch außerhalb der Klinik, beispielsweise bei der frühen Nutzenbewertung, genutzt werden? Wie schätzen Sie die Akzeptanz seitens des G-BA und des IQWiG ein?

Prof. Arnold: In die Abschätzung des klinischen Nutzens geht vor allem die Ratio aus Zugewinn – bzw. Verbesserung im Rahmen der in der Tumorentität bestehenden Ausgangssituation – und den dabei oder dadurch entstehenden Nebenwirkungen bzw. Toxizität ein. Die „Preiswürdigkeit“ eines Krebsmittels lässt sich nur sehr indirekt ableiten, da die Preiskategorie nicht berücksichtigt ist. Insofern ist die Bewertung eher mit der eines Zulassungsverfahrens als mit der eines Preiserstattungsverfahrens vergleichbar. Dennoch denke ich, dass dieser Ansatz auch für Institutionen wie G-BA bzw. die Nutzenbewertung durch das IQWiG sinnvoll sein kann, ggf. als zusätzliches Instrument. Die Stärke ist sicher der Vergleich des klinischen Nutzens im speziellen klinischen Setting, das vorher genau analysiert worden ist. Hierfür ist eine erhebliche Expertise notwendig, die den klinischen Verlauf der Erkrankung, die sonstigen Therapieoptionen sowie die erzielbare Verbesserung berücksichtigt und standardisiert zur Anwendung bringt.

Ist ein solcher Ansatz auch für Indikationen außerhalb der Onkologie denkbar?

Prof. Arnold: Ich kann mir das gut vorstellen. Allein schon die oben beschriebene Heterogenität des klinischen Nutzens innerhalb der Onkologie zwischen den einzelnen Tumorentitäten bzw. deren Versorgungssituation ist so groß, dass es sich fast um „verschiedene Erkrankungen“ handelt. Der Nutzenzugewinn bei einer seltenen Erkrankung, bei der sonst keine Option verfügbar ist, wird anders zu bewerten sein als eine Verbesserung bei einer Erkrankung wie z.B. der chronisch-myeloischen Leukämie. Und dieser wiederum anders als in der Erstlinientherapie einer Erkrankung wie dem hormonsensiblen metastasierten Mammakarzinom. „Die Onkologie“ ist ohnehin ein zu starres und heterogenes Feld. Es gibt durchaus Erkrankungssituationen „außerhalb“ der Onkologie, die manchen in der Onkologie sehr vergleichbar sind – zumindest was die Nutzen-Situation von neuen medikamentösen Therapien angeht. Es erscheint mir sogar recht attraktiv, dieses Instrument auch in diesen Situationen anzuwenden und zu validieren. Somit hätte man erstmals eine gute Vergleichbarkeit des Nutzens zwischen verschiedenen Erkrankungen. Wichtig ist aber, dass die Experten, die diesen Nutzen besser beschreiben und definieren können als Experten für Gesundheitsökonomie, frühzeitig und intensiv mit eingebunden sind.

*Das Hazard Ratio ist ein deskriptives Maß zum Vergleich von Überlebenszeiten zwischen zwei verschiedenen Gruppen von Patienten (Quelle: www.aerzteblatt.de).

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