Direkt zu:

Interviews
18.11.2016

Interview des Monats mit Prof. Anna Holzscheiter „Deutschland versucht bei globaler Gesundheitspolitik aufzuholen“

Berlin (pag) – Über Deutschlands Rolle in der internationalen Gesundheitspolitik hat die Politologin Prof. Anna Holzscheiter kürzlich mit Hermann Gröhe auf einer Veranstaltung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung diskutiert. Dem Gesundheitsminister ist das Thema globale Gesundheit ein wichtiges Anliegen. Welche Akzente er dabei setzt und welche Herausforderungen zu meistern sind, erläutert Holzscheiter im „Interview des Monats“.

Wie agiert Deutschland in globalen Gesundheitsfragen?

Holzscheiter: Deutschland hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten immer stärker in die internationale Gesundheitspolitik eingemischt: sowohl in seiner Rolle als Beitragszahler von internationalen Organisationen als auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung internationaler Ziele. Deutschland ist heute nach den USA und Japan der drittgrößte Beitragszahler der Weltgesundheitsorganisation und der viergrößte Beitragszahler des Global Fund für die Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria. Dennoch findet die Rolle Deutschlands in der Gesundheitsdiplomatie erst seit kurzem Beachtung im wissenschaftlichen Diskurs.

A propos wissenschaftlicher Diskurs: Sie leiten ja eine Arbeitsgruppe zur globalen Gesundheitspolitik. Was steht dort im Fokus?

Holzscheiter: In unserem Forschungsprojekt zum Wandel der institutionellen Architektur in der globalen Gesundheitspolitik untersuchen wir unter anderem den Einfluss einzelner Staaten und privater Akteure. Die USA, Großbritannien oder Frankreich nehmen bereits seit Jahrzehnten eine herausragende Stellung ein. Mittlerweile ist auch Deutschland auf unserem Radar. Wir beobachten gespannt und auch ein wenig überrascht, wie es in Sachen globaler Gesundheitspolitik aufzuholen versucht.

Die Bundesregierung scheint in jüngster Zeit auf diesem Feld neue Akzente zu setzen, ein Stichwort lautet beispielsweise Antibiotikaresistenz. Erkennen Sie einen Kurswechsel, und wenn ja, wie lässt sich dieser beschreiben?

Holzscheiter: Prinzipiell lässt sich in der internationalen Gesundheitspolitik seit einigen Jahren ein Kurswechsel beobachten – weg von auf einzelne Krankheiten begrenzten Programmen und Initiativen hin zu einer Stärkung von Gesundheitssystemen und zur universellen Krankenversicherung. Wie andere Länder auch unterstützt Deutschland diesen Kurswechsel vehement, obgleich es sich auch die Lösung einzelner Gesundheitsprobleme auf die Fahnen schreibt.

Zum Beispiel?

Holzscheiter
: Die Bundesregierung macht sich etwa stark für die Bekämpfung des Hakenwurms, die Ausrottung der Kinderlähmung, nicht-übertragbare Krankheiten und Antibiotikaresistenzen. Dennoch orientiert sich die deutsche Strategie ganz klar an dem Ziel, die institutionellen Strukturen in diesem Politikfeld zu stärken und Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt robuster zu machen. Diese Ziele hat die Bundesregierung 2014 mit ihrem Strategiepapier „Shaping Global Health“ unterstrichen und insbesondere mit der 2015 gemeinsam mit der WHO lancierten Initiative „Healthy Systems, healthy lives“ betont.

Was sind die wichtigsten Herausforderungen, denen Deutschland sich stellen muss, wenn Gesundheit im globalen Kontext gedacht wird?

Holzscheiter: Die wichtigsten Herausforderungen resultieren aus der Tatsache, dass sich die Trennlinie zwischen den innen- und außenpolitischen Dimensionen der globalen Gesundheit in einem Gewirr globaler Verflechtungen aufzulösen scheint. Globale Interdependenzen sind in kaum einem Bereich so sichtbar wie bei der Gesundheit. Ein Beispiel: Die OECD forderte im vergangenen Jahr, dass Deutschland viel mehr Ärzte aus dem Ausland anwerben müsse, um sein Gesundheitssystem zu sanieren. Zu diesem Zeitpunkt waren knapp 32.000 ausländische Ärzte in Deutschland tätig, von ihnen kamen elf Prozent aus Rumänien und acht Prozent aus Griechenland. Daraus ergibt sich unmittelbar die Notwendigkeit, Zusammenhänge zwischen der Gesundheitssituation der eigenen Bevölkerung, dem nationalen Gesundheitssystem und dem Gesundheitszustand der Menschen in anderen Ländern jenseits von Infektionskrankheiten und Gesundheitskrisen zu erkennen sowie die internationalen Dimensionen in essentiellen Bereichen für den Gesundheitssektor zu berücksichtigen. Beispiele hierfür wären die Migration von Gesundheitspersonal oder der Wissenstransfer, beispielsweise der Austausch von Patientendaten – data sharing – und wissenschaftlichen Erkenntnissen im Gesundheitsbereich – open access.