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Interviews
19.12.2017

Interview des Monats mit Prof. Ilhan Ilkilic Interkulturelle Kompetenz wird nicht gebührend berücksichtigt

Berlin (pag) – Zu Migration und Gesundheit gibt es mittlerweile zahlreiche Projekte und Initiativen. Der reale Bedarf in der Gesundheitsversorgung wird dadurch aber bei weitem nicht abgedeckt, findet Prof. Ilhan Ilkilic. Im „Interview des Monats“ weist er darauf hin, dass Kommunikationslücken durch Überdiagnostik ausgeglichen werden. Außerdem warnt der türkische Arzt und Philosoph: Interkulturelle Medizinethik und Kompetenz werden bisher in der Aus- und Fortbildung der Gesundheitsberufe nicht ausreichend berücksichtigt.

Über 18 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland. Wo sehen Sie angesichts kommunikativer und kultureller Barrieren die größten Herausforderungen für Ärzte und Pflegekräfte?
In der alltäglichen Praxis passiert es nicht selten, dass sich ein Patient mit Migrationshintergrund und ein deutscher Arzt nicht in derselben Sprache verständigen können. Oft fehlt ein professioneller Dolmetscherdienst, der diese Problematik beheben könnte. Um die Kommunikationslücken auszugleichen, werden zusätzliche unnötige Untersuchungen durchgeführt. Leider führt diese Vorgehensweise zu Ressourcenverschwendung und zu Überdiagnostik. Es ist auch problematisch, wenn Familienangehörige mit gutem Willen zur Überwindung sprachlicher Barrieren einspringen: Fehlende Sprachkompetenz und mangelnde Neutralität können zu fehlerhaften Übersetzungen oder Auslassungen führen. Ebenfalls kann ein Autoritätsverhältnis zwischen dem Patienten und den Dolmetschern eine authentische Kommunikation gefährden. Leider können Ärzte und Pflegekräfte mögliche Manipulation und Zensur in solchen Gesprächssituationen nicht bemerken oder kontrollieren.

Wie sieht es mit kulturellen Praktiken und Einstellungen aus?
Manche solcher Praktiken und Einstellungen können in interkulturellen Behandlungssituationen für Gesundheitsberufe eine Herausforderung darstellen. Dazu gehören beispielsweise ein kulturell-religiös bedingtes Verständnis von Intimität und ein damit verbundenes Schamgefühl. Aufgrund dieses Intimitätsverständnisses wünschen Patienten, von gleichgeschlechtlichem Personal untersucht und behandelt zu werden. Die Realität im medizinischen Alltag lässt jedoch wenig Raum, um solche Wünsche zu berücksichtigen. Auch durch religiöse Grundpflichten und Speisevorschriften können während der medizinischen Behandlung Interessenkonflikte entstehen. Einige Beispiele dafür sind: Fasten und eine damit nicht vereinbare medizinische Medikation oder die Anwendung medizinischer Mittel, die von religiösen Speisevorschriften untersagt sind, wie vom Schwein gewonnene Präparate, Herzklappen oder Arzneibestandateile wie Gelatine. In solchen Situationen ist ein offenes Gespräch erforderlich, das vielleicht durch eine klinische Ethikberatung besser organisiert werden könnte.

Können Sie weitere Beispiele nennen, wann es zu schwierigen Situationen kommen kann?
Sprachliche Barrieren bekommen dann eine besondere ethische und juristische Bedeutung, wenn beispielsweise eine Krebsdiagnose von den dolmetschenden Familienangehörigen nicht an den Patienten weitergeleitet wird. Der Verwandte möchte zwar damit verhindern, dass der Patient durch diese Nachricht traurig wird und ihm somit nicht geschadet wird. Auf der anderen Seite verhindert dieses Verhalten das Recht des Patienten auf Wissen und gefährdet somit auch die Realisierung seiner Selbstbestimmung. Hier ist die Frage relevant, ob die Patientenautonomie in allen Kulturen dieselben moralischen Implikationen haben kann und darf. Deswegen brauchen wir in interkulturellen Behandlungssituationen häufig eine Reflektion über die geltenden ethischen Prinzipien und die Bedeutung der moralischen Diversität als Realität unserer Gesellschaft.
Ebenfalls kann es dazu kommen, dass der muslimische Patient aufgrund von Speisevorschriften auf bestimmte Medikamente verzichtet oder um religiöse Grundpflichten zu realisieren. Es ist zwar bekannt, dass es in der islamischen Ethik das Prinzip „Notlage hebt die Verbote auf“ gibt. In der Praxis existieren jedoch unterschiedliche Umgangsformen mit diesem Prinzip. Deswegen sollte der Patient, der eine erforderliche Therapie ablehnt, klarer und umfassender über die jeweilige Situation aufgeklärt werden. Hier kann auch eine Imam-Konsultation, die theologische Aspekte beleuchtet, Hilfe leisten.

Ist die Versorgung ausreichend auf Migranten eingestellt, wo sehen Sie Verbesserungsbedarf – beispielsweise in Aus- und Fortbildung?
Ich denke, in die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund zu investieren, ist zugleich eine Investition in die Zukunft dieses Landes. Es gibt mittlerweile zahlreiche Projekte, Initiativen und viel Forschung mit dem Ziel, die Gesundheitsversorgung der Migranten zu verbessern. Auch wenn diese Entwicklung zu begrüßen ist, sind wir weit davon entfernt, damit den realen Bedarf der Gesundheitsversorgung abzudecken. Enorme Lücken gibt es beispielsweise in der Aus- und Fortbildung der Gesundheitsberufe. Interkulturelle Medizinethik und Kompetenz wurden trotz ihrer großen Bedeutung bisher in der Aus- und Fortbildung der Gesundheitsberufe in Deutschland nicht gebührend berücksichtigt. Diese Themen werden entweder gar nicht, wie bei der Ausbildung der Medizinstudenten, oder nicht ausreichend, wie bei der Ausbildung der Pflegekräfte, behandelt. Das führt sowohl zur Unsicherheit bei der ethischen Entscheidungsfindung des Behandlungsteams als auch zu einer suboptimalen Versorgung von Patienten. Um solche gravierenden negativen Auswirkungen zu verhindern und die professionelle Selbstwahrnehmung zu verbessern, sollten diese Themen ein fester Bestandteil der Aus-, Weiter- und Fortbildung in den Gesundheitsberufen sein.