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Interviews
19.01.2018

Rundruf bei gesundheitspolitischen Beratern  Schadet das regierungspolitische Vakuum dem Gesundheitssystem?

Berlin (pag) – Zäh und langwierig ist das Ringen um Deutschlands künftige Regierung. Und auch wenn unter der geschäftsführenden Bundesregierung und in der gemeinsamen Selbstverwaltung „business as usual“ gilt, so warten doch zahlreiche gesundheitspolitische Herausforderungen darauf, endlich angegangen zu werden. Für das Interview des Monats haben wir daher fünf Berater um ihre Einschätzung gebeten: Schadet das „regierungspolitische Vakuum“ dem Gesundheitssystem? 


„Gerne darf es Überraschungen geben“

JÜRGEN GRAALMANN, Geschäftsführender Gesellschafter Die BrückenKöpfe

Ich kann keinen Schaden erkennen, eher sehe ich Chancen in dem augenblicklichen „gesundheitspolitisch-geschäftsführenden Vakuum“. Unzweifelhaft war die letzte Legislatur gemessen an den beschlossenen Reformen eine der intensivsten. Nahezu alle Akteure wünschen sich immer wieder verlässliche Rahmenbedingungen und keine hektischen politischen Aktivitäten; dabei wird zugleich immer wieder betont, dass das Gesundheitswesen durch die gemeinsame Selbstverwaltung geprägt sei. Gut und richtig so. Dann sollten die Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung – auch jenseits des Gemeinsamen Bundesausschusses – die aktuelle Situation als Chance begreifen, ihre Verantwortung für die Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens aktiv vorantreiben. Dabei darf es gerne auch Überraschungen geben, wie bei der überfälligen Ablösung der Pflegenoten; oder muss es doch wieder die Politik als Schiedsrichter lösen? Positives Beispiel: Der neue Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft hat den Jahreswechsel zu einem Dialog-Angebot an die Kostenträger zur Weiterentwicklung der stationären Versorgung genutzt. Die Überprüfung der Selbstverwaltungstrukturen (wie G-BA, KBV, GKV-SV) war kein Thema in der Sondierung. Heißt es künftig selbst verwaltet oder selbst schuld?      

„Zeit des Verwaltens, nicht des Gestaltens“

DR. HANS-JOACHIM JOBELIUS, Geschäftsführer Jobelius – Solutions in Health Care

Gibt es denn ein „regierungspolitisches Vakuum“? Schließlich haben wir ja eine geschäftsführende Bundesregierung. Ihre Zeit ist jedoch eher eine Zeit des Verwaltens, nicht des Gestaltens. Insofern werden zurzeit Reformbaustellen wie zum Beispiel im Bereich Digitalisierung/E-Health nicht prägend durch die Bundesregierung und den Gesetzgeber behandelt. Die Gesundheitsversorgung ist jedoch auch ohne aktuelle gesetzgeberische Maßnahmen sichergestellt. Das deutsche Gesundheitssystem ist ein grundsätzlich funktionierendes System, das auch einige Monate ohne permanente „Steuerung“ durch eine Regierung seinen Aufgaben nachkommen kann. Es wird ja bewusst nicht nur durch den Gesetzgeber, sondern auch durch die Selbstverwaltung gestaltet. Die Veränderungsdynamik ist aufgrund der Systembesonderheiten zudem nicht mit normalen Märkten vergleichbar. Dort entfaltet beispielsweise die Digitalisierung einen weit größeren Anpassungsdruck. Insofern ist nicht davon auszugehen, dass durch ein „regierungspolitisches Vakuum“ von einigen Monaten dem Gesundheitssystem ein Schaden entsteht.


„Es muss an die großen Linien gehen“

DOMINIK MEIER, Geschäftsführender Gesellschafter Miller & Meier Consulting

Ja, es schadet ihm. Zwar ist die gemeinsame Selbstverwaltung uneingeschränkt handlungsfähig. Allerdings halten sich Kassen, Ärzte und Krankenhäuser wie auch der „kleine Gesetzgeber“ G-BA mit größeren Initiativen zurück, solange das Bundesgesundheitsministerium keine Farbe bekannt hat. Derweil warten eine ganze Reihe von gesundheitspolitischen Herausforderungen auf die nächste Bundesregierung: Gefordert sind Antworten zur besseren Verzahnung von ambulantem und stationärem Sektor, die Klärung der Zulässigkeit von Mischpreisen, eine Reform des G-BA sowie die Neugestaltung des Morbi-RSA. Politisch bedingte Verzögerungen beim Arztinformationssystem helfen den ohnehin festgefahrenen Digitalisierungsbemühungen im Gesundheitswesen darüber hinaus kaum weiter. Die letzte Regierung hat ihr selbst auferlegtes Programm in der vergangenen Legislatur wenig visionär, aber effizient abgearbeitet. Schützenhilfe hatte sie dabei durch die gute Konjunktur. Jetzt muss es aus der Detailarbeit an die großen Linien des Systems gehen.


„Sonderstellung des G-BA stößt auf Widerwillen“

KATRIN SCHLEGELBERGER, Geschäftsführende Gesellschafterin Brain, please! Unternehmensberatung im Gesundheitswesen

In der Gesundheitspolitik befinden wir uns ja in der komfortablen Situation, über eine eigene Regierung zu verfügen. Und für den G-BA gilt sowieso, was die Kanzlerin stetig zum Thema geschäftsführender Regierungsapparat verlautbaren lässt: Er ist handlungsfähig. Allerdings stößt dessen Sonderstellung seit Längerem auf Widerwillen – nicht nur bei vielen Abgeordneten und auch beim Bundesverfassungsgericht. Was die Gutachten zur Legitimationsfrage ergeben haben, wie sich die Diskussion weiterentwickeln wird und was der Polit-Profi Josef Hecken daraus macht, darauf sind wir sehr gespannt. Leider müssen wir weiter abwarten. Als Berater werden wir die Argumente der Debatte gerne aufgreifen. Als Berater, Bürger und Patienten wünschen wir uns, dass die Anliegen der chronisch kranken und pflegebedürftigen Menschen in einer modifizierten G-BA-Konstruktion stärkeres Gehör finden werden.


„Das Problem beginnt am Tag nach der Regierungsbildung“

ULRICH TILLY, Partner WMP Healthcare

Gemessen an den großen Finanzierungsnöten, in denen das Gesundheitssystem vor 20 oder 15 Jahren steckte, kann man sicher einige Monate auf neue Gesetze verzichten. Angesichts von 27 Milliarden Euro Reserven, wachsender Löhne und Beschäftigung ist das BMG als NGO kein Problem. Die Frage ist, was eine neue Regierung, so sie zustande kommt, dann tatsächlich in Angriff nimmt. Findet sie Antworten auf die Mangelversorgung im ländlichen Raum, auf die großen Umwälzungen durch den rasenden medizinischen Fortschritt? Auf die dramatischen Umbrüche durch die exponentiell wachsenden Möglichkeiten der Digitalisierung und der Molekulargenetik zum Beispiel? Was taugen dafür die bisherigen Steuerungsinstrumente, Institutionen und gespaltenen Kostenträgerstrukturen? Wie bringe ich wieder mehr Vielfalt und Wettbewerb in die Steuerung anstelle von immer neuen LKW-Ladungen Richtlinienaufträge aus dem BMG in den Tiergarten? Weiter wie bisher? Das Problem beginnt am Tag nach der Regierungsbildung, nicht davor.