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11.09.2018

Interview des Monats mit Dr. Ilona Köster-Steinebach Über die Durchsetzbarkeit von Patienteninteressen

Berlin (pag) – Versicherte können ihre Interessen relativ gut durchsetzen, anders sieht es bei Patienten aus. In dem Moment, in dem sie am dringendsten auf das Gesundheitswesen angewiesen ist, sind sie am wenigsten durchsetzungsfähig, sagt die langjährige Patientenvertreterin Dr. Ilona Köster-Steinebach. Im Gemeinsamen Bundesausschuss hat sie die Erfahrung gemacht, „dass es den anderen Bänken schwerer fällt, ihre Interessen durchzusetzen, wenn sie dabei den Patientenvertretern in die Augen blicken müssen“. Mehr über die Durchsetzbarkeit von Patienteninteressen lesen Sie im Interview.

Versicherte und Patienten werden oft in einen Topf geworfen, dabei dürften sie andere Interessen haben. Wo sehen Sie die größten Unterschiede zwischen beiden Gruppen?
In der Möglichkeit zur wirksamen Vertretung ihrer Interessen. Versicherte können durch ihre Entscheidung für eine Krankenkasse als Verbraucher relativ mündig agieren. Sie wollen niedrige Beiträge bezahlen und vielleicht auch ein gutes Service-Paket bekommen. Diese Interessen können sie relativ gut durchsetzen, indem sie im Zweifelsfall die Krankenkasse wechseln.

Und Patienten?

... sind eine sehr heterogene Gruppe: Es gibt den Patienten, der langjähriger Chroniker ist, ansonsten aber relativ fit und souverän agiert. Es gibt den Patienten, der beispielsweise nach einem Unfall oder Schlaganfall völlig unverhofft hochgradig abhängig vom Gesundheitssystem geworden ist. Es gibt Patienten, die am Ende ihres Lebens auf Maximal- oder Palliativversorgung angewiesen sind. „Den Patienten“ gibt es nicht. Insofern ist es für die Betroffenen sehr schwierig, ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen. Hinzu kommt, dass man in dem Moment, in dem man am dringendsten auf das Gesundheitswesen angewiesen ist, am wenigsten durchsetzungsfähig ist. Als Patient bin ich bettlägerig, pflegebedürftig, vielleicht noch nicht einmal bei Bewusstsein oder damit beschäftigt, die Krankheitssituation zu verarbeiten. Deshalb bin ich überhaupt nicht in der Lage, meine eigenen Interessen wirksam in einen politischen Prozess einzubringen oder als Kunde zu agieren. Viele Patienten sind deshalb vulnerabler und anfälliger dafür, dass ihre Interessen eben nicht durchgesetzt werden.

Wie sieht es mit deren Interessensvertretung und -durchsetzung speziell in der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens aus? Wo bestehen strukturelle Defizite?
Krankenkassen haben zunächst einmal Versicherte als Kunden. Ihre Perspektive ist folglich verständlicherweise: Wer nicht mit niedrigem Beitragssatz, Service und vielleicht noch Prävention oder Wellness überzeugt, verliert seine Versicherten und damit die Existenzberechtigung. Insofern haben Versicherte durch die Interessensvertretung der Krankenkassen eine sehr starke Position. Problematischer sieht es mit der Vertretung von Patienteninteressen in der Selbstverwaltung aus. Die klassische Vorstellung ist, dass die Leistungserbringer das Patienteninteresse nach guter Behandlung vertreten...

Aber?
Das ist zwar teilweise der Fall, manchmal jedoch – insbesondere aufgrund von Wettbewerbsgestaltung – nicht mehr.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Wenn eine Leistung prinzipiell IGeL-fähig ist und teurer als IGeL verkauft werden kann, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich ein ärztlicher Berufsverband für die Aufnahme in den GKV-Leistungskatalog engagiert. Und unter Kostengesichtspunkten würde das die Versichertengemeinschaft auch nicht wollen. Das Patienteninteresse nach der guten und vollständigen Leistung ist damit nicht repräsentiert. Ein weiteres Beispiel ist die Qualitätssicherung.

Ein sperriges Thema.
Das stimmt. Qualitätssicherung wird von einigen Leistungserbringern als Eingriff in ihre Autonomie, als Misstrauen empfunden, weshalb das Thema bei ihren Organisationen nicht unbedingt auf der Agenda steht. Bei den Kassen ist das Interesse zwar etwas ausgeprägter, weil sie Versichertengelder für sinnvolle und gute Leistungen ausgeben wollen. Aber es handelt sich nicht um das primäre Interesse. Deswegen werden genuine Patienteninteressen – nach einem vollständigen Leistungskatalog, nach qualitativ guter und sicherer Leistung – nur unzureichend in der Selbstverwaltung repräsentiert.

Hat sich die Situation durch die Patientenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss verbessert?
Aus meiner Sicht hat eine deutliche Verbesserung stattgefunden. Zumindest ist damit klar geworden, dass Patienten eine eigene Sichtweise haben. Sie bekommen eine Stimme und oft auch ein Gesicht. Die Erfahrung zeigt, dass es den anderen Bänken schwerer fällt, ihre Interessen durchzusetzen, wenn sie dabei den Patientenvertretern in die Augen blicken müssen. Insofern hat sich einiges verbessert. Die Frage ist aber, wie es mit der Selbstverwaltung weitergeht.

Wie meinen Sie das?
Wenn wir im Wettbewerbsdenken bleiben, müssen Kassen vor allem versuchen, Versicherte über Beitragssatz, Service und Wellness an sich zu binden. Etabliert man bei den Leistungserbringern den ständigen impliziten Wettbewerb zwischen Selektivvertragsanbietern und Kassenärztlicher Vereinigung, führt das dazu, dass ein Leistungserbringerverband Leistungen ohne Qualitätssicherung zu möglichst hohen Kosten durchsetzen muss, um seine Existenz zu rechtfertigen. In diesem Fall wird das Patienteninteresse strukturell nicht richtig repräsentiert. Die Patientenseite müsste folglich stärker aufgebaut werden.

Haben Sie konkrete Verbesserungsvorschläge?
Ein eigenes Institut oder eine Stiftung könnte dabei helfen, dass Patienteninteressen so in das System hinein artikuliert werden, dass sie wirksam werden. Jemand, der aus der eigenen Betroffenheit kommt und ein konkretes Problem hat, weiß ja in der Regel gar nicht, an welchen Richtlinien das hängt. Er benötigt Systemkenntnisse, rechtliche Kenntnisse, methodisches Wissen. Dafür braucht es mehr Unterstützung und mehr Rechte.

Auch ein Stimmrecht?
Ich würde es zumindest mittelfristig empfehlen, wenn an der Wettbewerbsausrichtung des Versorgungssystems nichts geändert wird. Als möglichen ersten Schritt sehe ich jedoch, die Funktionen der unparteiischen Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses für Patienten zu nutzen. Für eine stärkere Öffentlichkeit und Legitimität des Ausschusses wäre außerdem eine stärkere Begründungs- und Diskussionskultur wünschenswert.

Das lässt sich aber nicht einfach verordnen.
Doch, indem jede Entscheidung, die gegen ein Votum oder einen Antrag der Patienten gefällt wird, inhaltlich begründet werden muss. Überzeugen die Begründungen nicht, hat das Bundesgesundheitsministerium mehr Möglichkeiten einzuschreiten. Das diszipliniert übrigens auch die Patientenvertretung, sich bereits vorab mit möglichen Argumenten auseinanderzusetzen. Es diszipliniert aber vor allem die anderen Bänke, tatsächliche Sachargumente und keine vorgeschobenen zu bringen.

Hinweis: Dr. Ilona Köster-Steinebach ist hauptamtliche Geschäftsführerin des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Das Interview hat sie allerdings nicht in dieser Funktion gegeben, sondern aus der Perspektive als langjährige Patientenvertreterin im Gemeinsamen Bundesausschuss.

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