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Interviews
29.07.2012

Interview des Monats mit Prof. Ingrid Mühlhauser: „Unzumutbare Intransparenz über ärztliches Handeln“

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) will die Krebsvorsorge stärken. Der Gesetzentwurf zur Krebsplan-Umsetzung sieht unter anderem vor, dass Früherkennungsuntersuchungen, für die es eine Europäische Leitlinie zur Qualitätssicherung gibt, als Programm in Deutschland eingeführt werden. Konkret würde das derzeit für gesetzlich Versicherte bedeuten, dass ihre Kasse sie ähnlich wie beim Mammografie-Screening auch zur Darmkrebs- und Gebärmutterhalskrebsvorsorge einlädt. Der Gemeinsame Bundesausschuss wird demnach verpflichtet, die Programme innerhalb von zwei Jahren zu beschließen. Die Gesundheitsprofessorin und Ärztin Prof. Ingrid Mühlhauser, Universität Hamburg, nimmt Stellung zu Nutzen und Schaden von Früherkennung.

Bedeutet mehr Früherkennung auch weniger Krebstote?

Mühlhauser: Für Screening auf Brustkrebs, Darmkrebs und Gebärmutterhalskrebs gibt es einen nachgewiesenen Nutzen. Allerdings erleiden sehr viel mehr Menschen durch das Screening Schaden. Der größte Schaden entsteht durch falsche Befunde sowie Überdiagnosen und daraus folgende Übertherapien. Mit der Einführung des flächendeckenden organisierten Mammografie-Screenings ist es zu einem signifikanten Anstieg an Brustkrebs(diagnosen) gekommen. Auch die Screening-Untersuchungen selbst können der Gesundheit schaden, das gilt insbesondere für die große Darmspiegelung. Bei älteren Menschen findet man bei einem Drittel Darmpolypen. Zusätzliche Koloskopien werden dann häufig als Kontrolluntersuchungen zur Überwachung durchgeführt. Diese müssten bei der Kosten-Nutzen-Schaden Bilanzierung mitberücksichtigt werden.

Mehr Screenings bringen mehr Versorgungsdaten, die Aussagen zum Nutzen zulassen. Als Wissenschaftlerin müssten Sie von dieser Aussicht doch begeistert sein, oder?

Mühlhauser: Durch die Überführung des sog. grauen und opportunistischen Screenings in organisierte Screening-Programme sollte vor allem der Schaden für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu reduzieren sein. Qualitätssicherung und Dokumentation sind dabei unverzichtbar. Insofern stellt der neue Gesetzentwurf einen Fortschritt dar.
Der bisherige Zustand der Intransparenz über das medizinische Handeln ist inakzeptabel. So gibt es z.B. bisher keine verlässlichen Daten zu den operativen Eingriffen beim Screening auf Gebärmutterhalskrebs. Im Vergleich zur Häufigkeit dieser Krebsform werden solche Eingriffe in Deutschland viel zu oft durchgeführt.
Zudem sieht der Gesetzentwurf ausdrücklich vor, dass das Inanspruchnahmeverhalten der einzelnen Person allein durch eine ausreichende, neutrale und verständliche Information und Beratung sowie dessen individuelle Werte und Präferenzen bestimmt sein soll. Demnach ist das Ziel einer informierten individuellen Entscheidung dem Ziel einer möglichst hohen Teilnahmerate übergeordnet. Allerdings sollte der Informationsprozess ebenfalls qualitätsgesichert ablaufen. Es ist abzuwarten in welcher Form dies umgesetzt wird.

Von welchen Ländern kann Deutschland in Sachen Krebsvorsorge lernen und warum?

Mühlhauser: Vorbild sind Länder, die ihre Screeningprogramme auf wissenschaftliche Evidenz gestützt durchführen. In Deutschland werden Frauen ab dem 20. Lebensjahr jährlich einer Screeninguntersuchung auf Gebärmutterhalskrebs unterzogen. In anderen Ländern werden Frauen erst ab 30 Jahren und in Abständen von 3 bis 5 Jahren zum Screening eingeladen. Trotzdem haben sie bessere Ergebnisse als Deutschland. Screeninguntersuchungen für die ein wissenschaftlicher Nachweis vorliegt, dass sie keinen Nutzen haben, sondern nur Schaden, sollten nicht angeboten oder durchgeführt werden dürfen. Dazu zählt beispielsweise das Screening auf Eierstockkrebs mit dem vaginalen Ultraschall, eine der beiden häufigsten individuellen Gesundheitsleistungen in Deutschland.


Kritik an Früherkennung

Prof. Ingrid Mühlhauser hat sich kritisch mit der „Aufklärung über Krebsfrüherkennung am Beispiel Mammografie- und Darmkrebs-Screening“ auseinandergesetzt. In einem Artikel schreibt sie: „Das Risiko für Krebs und der Nutzen von Früherkennung werden massiv überschätzt, der Schaden wird nicht berücksichtigt. Falsche Sicherheit und unnötige Beunruhigung sind die Folgen.“* Ähnlich äußerte sich IQWiG-Leiter Prof. Jürgen Windeler. In einem Interview in der Rheinischen Post sagt er im vergangenen Jahr: „Früherkennungsuntersuchungen haben in unserer Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert.“ Ihr Ansehen sei aber tatsächlich viel höher als das, was sie tatsächlich leisten.

* Z Allg Med 2005, nachzulesen unter http://www.gesundheit.uni-hamburg.de/upload/Muehlh_Steckelb_Aufkl_Krebsfrueherk_Z_Allg_Med_2005.pdf