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Interviews
29.04.2019

Interview des Monats mit Prof. Silke Schicktanz Demenzvorhersage und das neue Zeitalter der prädiktiven Medizin

Fortschritte in der Biomarker-Forschung werden in naher Zukunft eine preiswerte Vorhersage von Demenzen ermöglichen. Doch wie steht es um die ethischen, sozialen und rechtlichen Herausforderungen des medizinischen Fortschritts? Die Politik muss frühzeitig gestalten und darf nicht erst reagieren, wenn viele Testverfahren verfügbar sind, mahnt die Medizinethikerin Prof. Silke Schickten, Universitätsmedizin Göttingen. Sie sagt: „Wir befinden uns im neuen Zeitalter der prädiktiven Medizin, in dem die medizinische Vorhersage zentral geworden ist. “ Dieser medizinischen Realität müsse man sich stellen.

Sie warnen davor, dass unsere Gesellschaft auf die ethischen, sozialen und rechtlichen Herausforderungen einer Demenzvorhersage noch nicht ausreichend vorbereitet sei. Wo besteht der drängendste Diskussions- und Handlungsbedarf?
Bei der Schaffung konkreter Rahmenbedingungen, wie über solche Testverfahren aufgeklärt und beraten wird. Derzeit fehlen dafür standardisierte Formate. Unklar ist auch, wer dafür zuständig ist. Medienberichte über Bluttests zur Demenzvorhersage mögen manche eher erschrecken, andere aber auch motivieren, solche Tests in Anspruch zu nehmen. Dabei geht es allerdings nicht nur um derartige, vermutlich noch lange nicht marktreife Bluttests.

Sondern?
Wir müssen auch weitere Verfahren, die radiologischer, molekularbiologischer oder neuropsychologischer Natur sind, im Blick haben. Die psychosozialen und ethischen Auswirkungen solcher Verfahren sind viel zu gewichtig, als dass man einfach passiv bleiben darf.

Sehen Sie die Politik in der Pflicht?
Unbedingt. Sie ist dafür zuständig, medizinische Entwicklungen in einen gesamtgesellschaftlich tragfähigen Rahmen zu setzen, sodass die Chancen und Risiken abgewogen und für Patienten bzw. Bürger die besten Lösungen gefunden werden. Dies darf weder einzelnen Akteuren überlassen werden noch dem Zufall, ob sich eine Kommission damit beschäftigt – oder gar dem Markt. Es geht nicht darum, gleich ein radikales Verbot durchzusetzen. Die Aufgabe der Politik geht wesentlich weiter: Beratungsangebote, die auf standardisierte und evaluierte Verfahren aufbauen, müssen etabliert, allen zugänglich und finanzierbar gemacht werden. Die Politik muss frühzeitig gestalten und darf nicht erst reagieren, wenn bereits viele solcher Testverfahren verfügbar sind und sich nach und nach indirekt etabliert haben – etwa über Forschungssettings oder private Anbieter.

Das Projekt Prä-Diadem hat über zwei Jahre einen strukturierten Diskurs zwischen verschiedenen Stakeholdern initiiert. Was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Prozess?
„Reine“ Vorhersage-Testverfahren werden zwar als sehr kritisch bewertet, dennoch gilt es als unrealistisch, einfach ein Verbot zu fordern. Die liberale Grundhaltung, Bürgern bzw. Betroffenen eine eigene Entscheidung zu ermöglichen, überwiegt für viele. Außerdem haben wir bei zahlreichen, anfangs umstrittenen biomedizinischen Technologien gesehen, dass solche Verbote langfristig doch aufgeweicht werden, über Ausnahmen beispielsweise. Daher muss angesichts der vielen ethischen und sozialen Fragen den Menschen eine sehr gute Informations- und Entscheidungsbasis zur Verfügung gestellt werden. Deutlich wurde in dem Diskurs auch, dass es sowohl theoretisch als auch praktisch Grauzonen gibt, was genau eine Demenzvorhersage und was eine sehr frühe Diagnose der Demenz meint. Dieses Problem kennen wir selbst bei der genetischen Diagnostik.

Inwiefern?
Je nach genetischer Grundlage kann eine Gendiagnose nicht eindeutig den sicheren Ausbruch einer Krankheit bedeuten, aber dennoch die Wahrscheinlichkeiten dafür sehr erhöhen.

Welche Themen spielten bei dem Diskurs außerdem eine Rolle?

Die Stakeholder haben sehr deutlich herausgearbeitet, dass die ethische und soziale Bewertung der Demenzvorhersage mit unserem gesellschaftlichen Bild von der Demenz eng verzahnt ist. Ein sehr dramatisches Bild von der Erkrankung lässt auch deren Vorhersage als sehr dramatisch erscheinen. Daher sollte die Diskussion um die Demenzvorhersage eingebettet werden in alle weiteren Maßnahmen, die eine Entdramatisierung zum Ziel haben.

Was meinen Sie für Maßnahmen?
Jene, die konkret der Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit Demenz entgegenwirken, die Hilfe für die Betroffenen und ihre Familien in der alltäglichen Versorgung meinen, und die eine bessere gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Die aktuelle nationale Demenzstrategie-Diskussion sollte sich dem Thema unbedingt annehmen. Aber umgekehrt halte ich es für kurzsichtig, wenn man meint, dass sich damit Debatten um Vorhersagen und Tests erübrigen. Wir befinden uns im neuen Zeitalter der prädiktiven Medizin, in dem die medizinische Vorhersage zentral geworden ist. Ob man das nun gut findet oder nicht – für mich ist das ein Teil der medizinischen Realität, dem wir uns stellen müssen.

Das zentrale Ergebnis des Diskursverfahrens, eine Stellungnahme von 24 Verbänden, Institutionen und Organisationen, liegt mittlerweile vor. Wie soll es jetzt weitergehen, wie kann der gesellschaftliche Diskurs mit dem medizinischen Fortschrittsprozess Schritt halten?
Den gesellschaftlichen Diskurs ersetzen kann ein solches Forschungsprojekt nicht. Unser Projekt will einen Anstoß leisten und methodische Strukturierungshinweise anbieten. Dafür sehe ich drei Ansatzpunkte: Erstens werden wir aus den Ergebnissen Lehrinhalte für verschiedene Gesundheitsberufe formulieren. Die Studierenden aus unseren laufenden Pilotseminaren bestätigen uns, dass Demenz in ihrem Studium bzw. in ihrer Ausbildung viel zu kurz kommt – trotz der großen gesellschaftlichen und epidemiologischen Bedeutung. Die Lehrmaterialen, die dabei helfen sollen, die ethischen und sozialen Aspekte im Unterricht besser zu vermitteln, werden wir online und kostenlos zur Verfügung stellen. Zweitens beinhaltet unsere Handlungsempfehlung an die Politik, dass sich verschiedene gesundheitspolitische Gremien konkreter mit dem Thema zeitnah befassen sollten.

Und drittens?
Drittens werden wir selbst versuchen, in Anschlussprojekten das Thema „Beratung zur Demenzvorhersage“ konkreter aufzugreifen: Derartige Beratung muss betroffenenorientiert, breit zugänglich, laienverständlich und multidisziplinär konzipiert sein. Ein fachethischer und diskurswissenschaftlicher Input wäre unser Ansatz. Allein auf die klinische Beratung zu setzen, ist aus unserer Sicht ein Schritt zu spät – das gehört zwar dazu, aber in unseren Projektideen wollen wir früher und breiter ansetzen.


Zu Prä-Diadem:
Tragfähige Lösungen entstehen eher im offenen Diskurs als wenn man solche Diskussionen einzelnen Akteuren überlässt. Daher wurden in das Diskurs-Verfahren viele interessierte Stakeholder, die von den Folgen einer möglichen Demenzvorhersage betroffenen wären, eingebunden: Demenzforscher, praktizierende Ärzteschaft, Pflegende, Sozialarbeiter, Krankenkassen, Medizinethiker, Patienten- und Angehörigenvertreter. Prof. Silke Schicktanz nennt es einen interdisziplinären Raum, „der die üblichen Machtverhältnisse im Gesundheitswesen durchbrochen hat“. Von über 60 kontaktierten Organisationen hat sich knapp die Hälfte am Diskurs beteiligt. 24 Vertretende haben an der Stellungnahme mitgearbeitet, die wiederum den übrigen Organisationen zurückgespielt und von ihnen zum Teil kommentiert wurde. Weitere Informationen unter http://praediadem.de