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Interviews
26.07.2019

Interview des Monats mit Michael Wirtz Adipositas ist als Krankheit nicht akzeptiert

Selbsthilfe-Aktivist Michael Wirtz kämpft dafür, dass Adipositas-Patienten bedarfsgerecht versorgt werden. Mit einer Petition hat er kürzlich auf deren eklatante Unterversorgung aufmerksam gemacht. Über Leidensdruck, Schuldfragen und Behandlungen, die erst beginnen, wenn es bereits zu spät ist.

Wie werden adipöse Patienten hierzulande versorgt?

Im Moment erhalten diese Menschen quasi keine Hilfe. Einige Kassen bezuschussen eine Ernährungstherapie, andere machen nichts. Bewegung geht wieder nur über den Umweg einer Reha-Sportverordnung, und wer schon mal versucht hat, einen Platz für eine Verhaltenstherapie zu finden, der weiß, dass er zwei bis drei Jahre Wartezeit hat.

Was ist aus Ihrer Sicht eine bedarfsgerechte Versorgung adipöser Patienten?

Vom Prinzip her eine multimodale Behandlung, die individuell auf den Patienten zugeschnitten und auf sein Leben abgestimmt ist. Man kann nicht jedem einfach ein Therapiekonzept überstülpen, gerade deshalb, weil Adipositas so viele Ursachen hat. Es gibt immer auch eine psychische Komponente, aber bei jedem liegt der Fall anders.

Wer kommt zu Ihnen in die Selbsthilfe?

Die meisten kommen, wenn der Leidensdruck sehr hoch und es bereits zu spät ist.

Wann ist das?

Bei einem Body Mass Index von 40 und Begleiterkrankungen.

Werden diese Patienten von ihrem Hausarzt angesprochen?

Viele Ärzte trauen sich nicht. Dass jemand schwer übergewichtig ist, weiß jeder selbst. Ihm das noch mal zu sagen ist schwierig. Viele Betroffene reagieren darauf auch sensibel. Das ging mir früher auch so. Das Thema ist schambehaftet. Aber was soll der Arzt auch konkret machen? Es gibt ja nichts. Es wäre hilfreich, wenn er diese Patienten zum Ernährungstherapeuten schickte und konkrete Anlaufstellen benennen würde.

Reicht bei einem einem Body Mass Index von 40 oder 50 eine Ernährungsberatung?

Nein. Die Anzahl derer, die mit einer konservativen Therapie zum Erfolg kommen, ist marginal. Die meisten benötigen eine Operation. Die Behandlung beginnt immer erst, wenn es zu spät ist. Das bemängeln wir und das soll sich ändern. Was uns ärgert ist, dass Betroffene die konservative Behandlung vor einer Operation meist selbst bezahlen müssen. Die teuren Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, Schlaganfälle werden alle übernommen. Dann zahlt die Kasse den chirurgischen Eingriff und danach kümmert sich wieder niemand um die Nachbehandlung.

Viele Entscheider und sogar Ärzte sehen Fettleibigkeit im Bereich der Lebensstilfragen. Wer zu fett ist, ist selbst Schuld. Was sagen Sie dazu?


Denen würde ich gerne Kinder aus der Adipositas-Gruppe vorstellen. Bei anderen Krankheiten gilt das Verschuldungsprinzip auch nicht. Wartet der Adipositas-Kranke, bis er Diabetes hat, verschwindet die Schuldfrage wieder hinter der Krankheit. Das zeigt, Adipositas ist als Krankheit nicht akzeptiert.

Hinweis in eigener Sache: Adipositas-Patienten werden von der Solidargemeinschaft der Gesetzlichen Krankenversicherung vielfach im Stich gelassen. Darüber berichten wir in der Augustausgabe des Magazins von Gerechte Gesundheit ausführlich.