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27.08.2019

Interview des Monats mit Prof. Jan Schildmann Wie wirksam ist klinische Ethikberatung wirklich?

Halle/Berlin (pag) – In vielen Krankenhäusern gibt es eine klinische Ethikberatung. Sie soll Patienten, Angehörige und Behandler bei ethisch schwierigen Entscheidungen unterstützen. Aber wie wirkt sich diese Beratung auf die klinische Praxis tatsächlich aus? Das hat ein interdisziplinäres Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Prof. Jan Schildmann, Universitätsklinikum Halle, untersucht. Im „Interview des Monats“ erläutert er, warum die Forschung zur Effektivität der Beratung so kompliziert ist.

Was genau ist klinische Ethikberatung?
Darunter werden gewöhnlich drei Aufgaben verstanden: erstens die Beratung bei klinischen Einzelfällen, wenn ethische Unsicherheiten oder Konflikte bestehen. Zweitens werden darunter Fortbildungen zu klinisch-ethischen Themen, wie beispielsweise Entscheidungen am Lebensende gefasst. Und drittens gehört dazu die Arbeit an Ethik-Leitlinien. Das sind Empfehlungen zum Umgang mit herausfordernden Situationen, die häufiger im klinischen Alltag vorkommen, so dass nicht jedes Mal eine Fallbesprechung erforderlich wird.

Wer übernimmt diese Aufgabentrias?
Meistens ein klinisches Ethikkomitee, das multiprofessionell zusammengesetzt ist – also Ärzte, Pflegende, aber auch Vertreter aus der Psychoonkologie und Seelsorge können dem Gremium angehören. An manchen Kliniken arbeiten auch hauptamtliche Ethikberater, das ist aber eher die Ausnahme.

Gibt es einheitliche Standards für Ethikkomitees?
Im Unterschied zu den Ethikkommissionen, die für die Begutachtung von Forschungsprojekten zuständig sind, haben diese Komitees in Deutschland keine gesetzliche Grundlage. Allein im Hessischen Krankenhausgesetz wird die Bestellung eines Ethikbeauftragten geregelt. Auf der Ebene der Fachgesellschaften hat die Akademie für Ethik in der Medizin in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Empfehlungen und Standards etwa zur Einrichtung von Ethikberatung, zur Dokumentation von Fallberatungen und zur Evaluation entwickelt. Die Akademie führt seit einigen Jahren auch ein Zertifizierungsverfahren durch. Und auch von der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer gibt es eine Empfehlung zur klinischen Ethikberatung, die aus dem Jahre 2006 stammt.

Das ist schon ein wenig her.
Die Empfehlung werden gerade ergänzt, und zwar für den sich momentan entwickelnden Bereich der außerklinischen Ethikberatung – zum Beispiel in der ambulanten Versorgung oder im Pflegeheim.
 
Wie läuft in der Klinik eine ethische Fallberatung ab – was gibt es für Vorgehensweisen?
In dem von uns durchgeführten Cochrane review konnten wir zwei Typen identifizieren: Entweder findet die Einzelfallberatung auf Anfrage statt oder sie wird proaktiv angeboten. Bei letzterem wird beispielsweise nach einer festgesetzten Liegezeit der Ethikberater selbst aktiv, um mögliche Konflikte zu identifizieren. Es gibt weitere Varianten, beispielsweise klinische Ethikvisiten, das bedeutet, der Ethikberater geht mit auf die Visite.

Wie halten Sie es in Halle?
Am Universitätsklinikum orientieren wir uns am Bedarf der verschiedenen Kliniken. Neben der Ethikfallberatung auf Anfrage haben wir beispielsweise mit den Kollegen der Kardiologie einen jour fixe im Anschluss an die Visite auf einer Intensivstation. Mit den Kollegen aus der Palliativmedizin diskutieren wir weiterhin bei der wöchentlichen Fallbesprechung über Aspekte der Versorgung, die aus Sicht der Kliniker ethisch relevant sind. Ein vergleichsweise neues Angebot für Patienten und Angehörige ist das sogenannte Advance Care Planning. Hier beraten wir im Rahmen eines strukturierten Prozesses Menschen bei der Erstellung von Patientenverfügungen.

Ist klinische Ethikberatung ein Standard an deutschen Kliniken? 

Das Angebot hat zugenommen, das zeigen Daten aus 2005 und 2014. Mittlerweile werden Formen der Ethikberatung in vielen Häusern in Deutschland angeboten. Was man weniger weiß ist, welche Aktivitäten wie häufig stattfinden. Eine Untersuchung aus den USA von Ellen Fox zeigt, dass das Spektrum an Aktivitäten und die Häufigkeit der durchgeführten Beratungen enorm groß ist – von einer kleinen einstelligen bis zu einer dreistelligen Zahl im Jahr.

Welche Häuser etablieren insbesondere eine solche Beratung – sind es vor allem konfessionelle Häuser, eher großer oder kleine Klinken?
Studien zufolge sind es in Deutschland überwiegend konfessionelle und mittlere sowie große Krankenhäuser. Die konfessionellen Häuser und deren Verbände waren Ende der 1990er Jahre die ersten, die das Thema aufgegriffen und Empfehlungen ausgesprochen haben.

Welche Erwartungen haben Behandler und Angehörige an die klinische Ethikfallberatung?
Eine häufige Erwartung – sowohl des Behandlungsteams als auch der Angehörigen – ist zu eruieren, was Patienten, die nicht mehr selbst entscheiden können, in Bezug auf die technisch möglichen Maßnahmen am ehesten gewollt hätten. Patientenverfügungen sind häufig sehr allgemein gefasst und auf die aktuelle Situation nicht anwendbar. Sie müssen dann anhand mündlicher Aussagen von Patienten und Einschätzungen der Angehörigen interpretiert werden, um den mutmaßlichen Patientenwillen zu rekonstruieren. Wenn wir diesen mit einer gewissen Sicherheit bestimmen können, wird vieles einfacher. Eine weitere häufige Aufgabe sind Beratungen bezüglich der Nutzen-Schaden-Abwägung im Rahmen der Indikationsstellung.

Worum geht es dabei genau?
Wenn das Behandlungsteam unsicher ist, ob bestimmte Maßnahmen noch zu rechtfertigen sind, kann es bei der Nutzen-Schaden-Abwägungen zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Es ist dann die Aufgabe der Ethikberatung, verschiedene Perspektiven zusammenzubringen und den Austausch über ethisch relevante Werturteile bei der Indikationsstellung zu fördern.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Stellen Sie sich einen Patienten vor, der aufgrund eines Schlaganfalls nicht einwilligungsfähig ist und nach neurologischer Einschätzung nicht mehr kommunikationsfähig sein wird und anderweitig bewusst am Leben teilhaben wird. Nun hat er eine schwere Infektion am Bein. Die medizinische Frage ist: Soll sein Bein amputiert werden oder eine konservative Therapie angewendet werden, eine Antibiotikatherapie mit weniger Chancen auf Erfolg, mit der sich aber eine Amputation eventuell vermeiden ließe? In solchen Situationen müssen Ärzte unter Berücksichtigung von Nutzen und Schaden prüfen, ob sie beide Möglichkeiten für indiziert halten beziehungsweise welches Vorgehen sie empfehlen.

Was haben Sie über die Wirksamkeit der Klinischen Ethikberatung festgestellt?
Aus einzelnen Studien können wir Effekte ableiten: Diese beziehen sich sowohl auf die Zufriedenheit mit der Beratung und mit der Patientenversorgung als auch auf den Einsatz medizinischer Maßnahmen in der letzten Lebensphase. Außerdem werden Effekte erzielt hinsichtlich eines Konsenses für das weitere Vorgehen.

Aber?
Aufgrund der methodischen Qualität der Studien und der zum Teil auch heterogenen Aussagen muss man in der Zusammenschau sagen, dass die Ergebnisse nicht robust genug sind. Sichere Aussagen zur Effektivität der Ethikberatung können wir derzeit nicht machen.

Was sind die Probleme bei den Studien?
Wir haben unter anderem festgestellt, dass die verwendeten Zielkriterien sehr divers sind. Außerdem ist die Auswahl geeigneter Endpunkte mit großen Herausforderungen verbunden.

Inwiefern?
Ein Evaluationskriterium muss zum einen gut messbar sein. Zum anderen muss es aussagekräftig in Bezug auf den Effekt einer Intervention sein. Mortalität zu messen ist beispielsweise einfach. Wenn nun mehreren Studien festgestellt wurde, dass Ethikberatung in der Versuchsgruppe nicht signifikant zu einer Erhöhung der Sterblichkeit führt, dann könnte man das zunächst für ein wichtiges und gutes Ergebnis halten. Es zeigt, dass vor der Beratung keine Angst gehabt werden muss. Diesbezüglich gab es zumindest in den USA bisweilen die Befürchtung, dass eine Ethikberatung dazu führt, dass lebenserhaltende Maßnahmen vorzeitig beendet werden. Doch selbst wenn unsere Untersuchung gezeigt hätte, dass die Mortalität in allen Studien zusammengenommen signifikant erhöht gewesen wäre, ist fraglich, ob das per se ein schlechtes Ergebnis gewesen wäre. Schließlich kann es durchaus sein, dass wir in dieser Gruppe viele Patienten gehabt haben, die wirklich hätten sterben wollen.

Das bedeutet?
... dass eine Zusatzinformation, etwa zum Patientenwillen, nötig ist, um das Mortalitätsergebnis richtig einordnen zu können. Ähnlich ist es bei intensivmedizinischen Maßnahmen vor dem Tod. In Studien wurde untersucht, ob Ethikberatung dazu führt, dass weniger künstliche Ernährung oder Beatmung bei Patienten in den Tagen vor ihrem Tod durchgeführt wurde. Das war tatsächlich der Fall. Doch wie ist dieses Ergebnis zu bewerten? Möglich ist, dass es in der Gruppe Patienten gab, die so viel Therapie wie möglich gewollt hätten. Ist es dann ein gutes Ergebnis, wenn weniger gegeben wurde? Es ist also gar nicht so einfach Endpunkte zu finden, die verlässlich darüber Auskunft geben, ob die Ethikberatung gut ist.

Aber die Zufriedenheit von Teilnehmern der Ethikberatung lässt sich doch relativ unkompliziert messen?

Das können Sie messen. Aber auch hier gilt: War eine Beratung wirklich schlecht, wenn einige Beteiligten unzufrieden dort herausgehen? Schließlich werden da schwierige Fälle verhandelt, der eine hält eine Vorgehensweise für sinnvoll, die andere eine andere. Für einige Angehörige kann diese Situation ohnehin so belastend sein, dass sie nicht wirklich zufrieden sind – auch nicht mit der Beratung. Trotzdem ist der Prozess möglicherweise gut gelaufen: Alle klinisch-ethisch wichtigen Fragen wurden angesprochen und es wurde in einer schwierigen Situation versucht, eine angemessene Entscheidung zu treffen.

Was bedeutet das für die Forschung?
Wir brauchen für solche Forschungsarbeiten Personen, die viel von empirischen Methodik verstehen, und wir brauchen Medizinethiker, die in der Lage sind, mögliche Endpunkte kritisch hinterfragen beziehungsweise die Auswahl ethisch zu begründen. Insgesamt besteht auf diesem Gebiet ein großer Forschungsbedarf.

Und welche Hausaufgaben müssen von der klinischen Ethikberatung selbst erledigt werden?
Die Forschungsergebnisse können auch einen Anstoß zur Klärung der Ziele unterschiedlicher Angebote von Ethikberatung geben. Wer Ethikfallberatung anbietet, sollte sich darüber klarwerden, welches Ziel im Rahmen des spezifischen Angebote primär verfolgt wird und warum welche Vorgehensweise gewählt wird. Ethikfallberatung ist nicht gleich Ethikfallberatung. Es ist ein Unterschied, ob es vor allem darum geht, dass Mitarbeiter einer Klinik ein gemeinsames Verständnis eines ethisch relevanten Problems entwickeln sollen oder ob es darum geht, proaktiv ethische Konflikte zu erkennen und diese quasi präventiv anzugehen. Eine solche Klärung ist nicht nur für die Evaluation, sondern für das Selbstverständnis von Ethikberatungsangeboten wichtig. Ich habe persönlich keinen Zweifel, dass Ethikfallberatung einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgungsqualität leisten kann. Wir sollten allerdings diesen Beitrag konzeptionell und empirisch besser fassen, als dies bisher häufig der Fall ist.


Mehr zum Forschungsprojekt
An dem mehrjährigen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt waren neben Forschern des Universitätsklinikums Halle auch Wissenschaftler aus Bochum, München und Amsterdam beteiligt. Die Arbeit des Teams wurde gerade als Cochrane Review veröffentlicht. 

www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD012636.pub2/epdf/abstract

Gleichzeitig ist eine weitere Publikation im Journal „BMC Medical Ethics“ erschienen. 

Link: doi.org/10.1186/s12910-019-0381-y





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