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Interviews
26.09.2019

Interview des Monats mit Prof. Marie-Luise Dierks Gesundheitskompetenz: „Eine Gesamtstrategie für das System fehlt bislang“

Um die Gesundheitskompetenz der Deutschen ist es nicht zum besten gestellt – das hat die Politik auf den Plan gerufen: Ein nationaler Aktionsplan und eine Allianz verschiedener Akteure des Gesundheitswesens sollen Abhilfe schaffen. An der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) startet demnächst ein Promotionsprogramm „Chronische Erkrankungen und Gesundheitskompetenz“. Prof. Marie-Luise Dierks leitet an der MHH den Forschungsschwerpunkt Patientenorientierung und Gesundheitsbildung, außerdem ist sie im Expertenbeirat des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz. Im „Interview des Monats“ stellt sie fest, dass der Versorgungsalltag nach wie vor von traditionellen Leitbildern, Verhaltensmustern und Organisationsabläufen geprägt sei. Eine Gesamtstrategie für ein menschenorientiertes, gesundheitskompetenzförderndes Gesundheitssystem fehle bislang.

Frau Prof. Dierks, wie steht es derzeit um die Forschung zur Gesundheitskompetenz?
Das Thema hat ein wenig an Fahrt aufgenommen – vor allem auf Basis der bevölkerungsbezogenen Studien zum Stand der Gesundheitskompetenz der Deutschen und des 2018 veröffentlichten Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz.

Aber?
Wir sollten uns unbedingt davor hüten, im Sinne eines „blaming the victim“ Probleme der Menschen im Zusammenhang mit der Gesundheitskompetenz auf deren „Unvermögen“ zurückzuführen. Im Gegenteil, wir müssen realisieren, dass Gesundheitskompetenz das Ergebnis eines Zusammenspiels ist: Neben den individuellen Fähigkeiten einer Person haben wir auch die situativen Anforderungen und die Responsiveness des Gesundheitssystems bzw. der Akteure zu betrachten. Wie genau dieses Zusammenspiel erfolgt, welche Kompetenzzuschreibungen erfolgen und welche gesellschaftlichen und institutionellen Anstrengungen unternommen werden müssen, um Gesundheitskompetenz zu verbessern, muss intensiv wissenschaftlich, aber auch versorgungspolitisch diskutiert werden.

Wo sehen Sie konkreten Forschungsbedarf?

Von der Theorieentwicklung und Grundlagenforschung bis hin zur Evaluationsforschung. Dazu gehören Studien zur Entwicklung, Evaluation und Implementation von Maßnahmen, die die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung unterstützen. Wir müssen Erhebungsinstrumente entwickeln, die individuelle Gesundheitskompetenz ebenso messen wie die Kompetenz der Institutionen, adäquate Maßnahmen zur Berücksichtigung und Verbesserung der Gesundheitskompetenz ihrer Adressaten umzusetzen. Dies gilt besonders für vulnerable und sozial benachteiligte Gruppen der Gesellschaft.

Sie sind Mitglied im Expertenbeirat des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz. Wie kommen Sie mit der Mission voran, den Deutschen mehr Gesundheitswissen zu vermitteln?

Die Mission des Nationalen Aktionsplans umfasst deutlich mehr als das Ziel, das Wissen der Deutschen zu erhöhen, auch wenn dies natürlich auch Bestandteil der Mission ist. Vielmehr soll Gesundheitskompetenz in allen Lebenswelten gefördert werden, der Umgang mit Gesundheitsinformationen und den Medien vereinfacht, das Gesundheitssystem nutzerfreundlich und gesundheitskompetent gestaltet sowie die Fähigkeit von Menschen, mit chronischer Erkrankung zu leben, gestärkt werden.

Das sind große Ziele...

... und wir kommen vermutlich nur in kleinen Schritten voran. Gesundheitskompetenz hat zudem enge Bezüge zu zahlreichen bislang schon existierenden Programmen und Projekten: zur Gesundheitsförderung, Prävention und Empowerment ebenso wie zur Patientenorientierung, zu informierter Entscheidung oder kritischer Gesundheitsbildung, aber auch zu Konzepten des Qualitätsmanagements und der Patientensicherheit.

Also bewegt sich etwas?

An vielen Stellen bewegt sich hier etwas, die Gesundheitskompetenz wird gestärkt, auch wenn dies nicht explizit hervorgehoben wird. Die Prozesse gehen allerdings langsam voran, vieles bleibt im Projektstadium stecken und vulnerable Zielgruppen werden nicht gut erreicht. Festzuhalten ist: Der Alltag der gesundheitlichen Versorgung ist nach wie vor geprägt von traditionellen Leitbildern, Verhaltensmustern und Organisationsabläufen. Eine Gesamtstrategie für ein menschenorientiertes, gesundheitskompetenzförderndes Gesundheitssystem fehlt bislang – daran arbeiten wir.

2017 wurde unter dem damaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe die Allianz für Gesundheitskompetenz gegründet, der viele namhafte Akteure des Systems angehören. Was hat diese Allianz bisher bewegt – reine Lippenbekenntnisse oder echte Innovationskraft?

Bislang hat die Allianz eher verhalten agiert, wenngleich einzelne Mitglieder an Initiativen arbeiten. Ein Beispiel ist das Nationale Gesundheitsportal mit dem Ziel, wissenschaftlich abgesicherte Informationsangebote zu Gesundheit und Krankheit zu bündeln und verständlich aufzubereiten. Dies soll in 2020 realisiert werden – sicher ein wichtiger Schritt. Wie es den Aktiven in der Allianz bislang jedoch gelingt, ihre Aktivitäten zusammenzuführen, abzustimmen und vor dem Hintergrund einer umfassenden Definition von Gesundheitskompetenz zu reflektieren, um eine nachhaltige Verankerung im Gesundheitssystem sicherzustellen, ist bislang noch offen.