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Interviews
30.03.2020

Nachgefragt bei Prof. Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats Wir brauchen eine Exit-Strategie

Jeder gibt in der jetzigen Situation sein Bestes, aber es fällt auf, dass systemische Webfehler die Arbeit der Fachkräfte in Krisenzeiten mit ihren knappen Ressourcen zusätzlich erschwert. Wie schaut der Vorsitzende des Sachverständigenrats auf diese Pandemie? Wir haben mit ihm am 24. März gesprochen.

Sie begutachten die Entwicklung im Gesundheitswesen – welche Entwicklungen sehen Sie unter Corona bisher?
Wir beobachten die aktuelle Entwicklung derzeit nicht speziell, insofern kann ich da nur sehr bedingt Stellung zu nehmen – zumal die Datenlage sehr heterogen ist. Aus unserer Sicht ist diese eines der größten Probleme überhaupt. Es werden wichtige Aspekte des Ausbruchs nicht vollständig erfasst. Wir haben deutliche Hinweise auf Trugschlüsse. Die Zahlen unterliegen starken Selektions- und Verzerrungseffekten. Dies gilt insbesondere für die genannte Zahl der Infizierten, die viel zu niedrig ist, als auch für die an Covid-19 Verstorbenen, die wahrscheinlich zu hoch ist. Die Berichtsqualität von den regionalen Behörden und Landesbehörden in Richtung RKI ist schlechter als man in unserem Land denken sollte. Insofern ist es  derzeit ganz schwierig, Ausbruchsgeschehen und Versorgungslage zu beurteilen. Wir wissen zum Beispiel aktuell nicht, wie viele von den Infizierten schwer erkranken, wie viele von denen stationär behandelt werden, wie viele intensivpflichtig sind, und wie viele von denen beatmet werden. Wir wissen noch nichts über die tatsächliche Corona-bedingte Sterblichkeit. Es ist noch zu früh für fundierte Aussagen.

Das hört sich nach vielen To Dos für die Zeit danach an.
Ja auch, aber viele dieser Informationen benötigen wir genau jetzt.

Wie können wir das heilen?
Das RKI muss darauf dringen, dass es diese Daten digital übertragen bekommt, dass sie vollständig übertragen werden, dass alle durchgeführten Tests – auch die nicht positiven berichtet werden, dass die Intensivkapazitäten berichtet werden und unterschieden wird, welche Patienten mit SARS-CoV-2 und welche Patienten davon an Covid-19 verstorben sind. Das passiert zurzeit nicht. Die Daten werden nicht differenziert erfasst und berichtet.

Viele Akteure sind daran beteiligt, wie kann das RKI das durchsetzen?
Das geht nicht von jetzt auf gleich. Aber die Meldewege müssen dringend verbessert werden. Spätestens nach der Krise muss man daraus systematisch lernen. Zum jetzigen Zeitpunkt könnte man zum Beispiel das DIVI*-Intensivregister nutzen. Hier werden zum ersten Mal in Deutschland überhaupt die Intensivkapazitäten auf einer elektronischen Plattform zusammengebracht. Etwa die Hälfte aller Kliniken ist dort bereits mit ihren Intensivkapazitäten abgebildet. Das Register soll real-time zeigen, wo in Deutschland Betten und Beatmungsplätze frei sind. Diese Transparenz wird gerade erst aufgebaut. Das ist eine sehr verdienstvolle Initiative der Fachgesellschaft DIVI*.

Es gibt zig Krankenhausreports und Krankenhausstudien. Da überrascht es, dass wir diese Informationen nicht haben.
Es gibt viele Daten, die wir für das Monitoring eines Ausbruchgeschehens benötigen und schlicht nicht haben. So ist auch nicht klar, wie sich die Infektionsraten verändern. Wenn wir hier von Kurven reden, die sich durch die ergriffenen Maßnahmen abflachen sollen, dann tun wir das teilweise im Blindflug, weil die Daten, die wir dazu brauchen nicht in der Qualität und nicht vollständig vorliegen. Bei den Intensivkapazitäten ist es jetzt die Initiative einer Fachgesellschaft, die dazu führt, dass sukzessive dieses Monitoring aufgebaut wird. Für belastbare Aussagen, was das jetzt genau bedeutet, ist es noch zu früh. So wissen wir auch noch gar nicht, ob das Ausbruchsgeschehen uns so sehr fordert, wie dies in anderen Ländern schon der Fall ist. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass wir hoffentlich nicht so schwer betroffen sein werden und nicht solche Bilder sehen, wie wir sie aus Italien gerade kennen.

Was sagt die Vernunft, wenn es um die Strukturreform im Krankenhauswesen in Deutschland geht. Hand aufs Herz: Haben Sie Ihre Meinung geändert?
Nein. Dazu sehe ich überhaupt keinen Anlass. Man muss jetzt erst einmal gucken, wie die Krankenhausstrukturen ausgelastet werden. Zurzeit werden ja auch unnötige Operationen abgesagt. Das ist eine Forderung, die haben wir nicht nur in Krisenzeiten, sondern generell. Außerdem muss man sehen, wie sich die Krankenhäuser verhalten. Ich höre, dass einige Häuser Covid-Patienten abweisen und in die Maximalversorgungskliniken schicken. Das bedeutet, sie stehen für die Versorgung nicht zur Verfügung. Die Krankenhausgesellschaft wird wahrscheinlich sagen, dass man alle Kapazitäten erhalten und noch ausbauen muss. Es ist aber noch viel zu früh, das zu beurteilen.

Was brauchen wir?
Eine gestufte Strategie und einen Public Health-Ansatz für die Versorgung der Patienten. Wir hören aus Italien, dass dort die Beschäftigten in den Krankenhäusern und die Sanitäter selbst die Super-Spreader für dieses Virus sind. 41 Prozent der Patienten haben sich erst im Krankenhaus angesteckt. Das bedeutet, wir brauchen eine gute Strategie wie zum Beispiel Verdachtsfälle von anderen getrennt werden. Wir sehen auch – das höre ich von Kardiologen – dass normale Herzpatienten schon jetzt vernachlässigt werden, weil die ganze Aufmerksamkeit auf die befürchtete Covid-19-Welle gerichtet wird. Alle diese Entwicklungen muss man auswerten und auch sehen, was hätte man besser ambulant machen können. Viele Patienten müssen nicht ins Krankenhaus. Gefragt sind unter Versorgungs- und Infektionschutzaspekten durchdachte, kluge Konzepte. So könnten beispielsweise zahlreiche Patienten mit überall einsetzbaren Pulsoximetern, digitaler Überwachung von Vitalparametern und einfacher Sauerstoffversorgung wahrscheinlich besser Zuhause isoliert und versorgt werden – bevor sie sich in kontaminierten Krankenhäuser anstecken oder dort selbst zum Infektionsherd werden. Die Frage, wie viele Patienten sind überhaupt zwingend krankenhauspflichtig, muss noch ausgewertet werden. Die Zahlen, die wir kennen, sind häufig sehr oberflächlich und es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass wir bei der Interpretation diversen Trugschlüssen unterliegen.

Die Pandemie trifft uns gerade in Zeiten des Umbruchs im Krankenhauswesen. Auf der politischen Tagesordnung steht eine Notfallreform. Was könnte sich durch die Pandemie, die wir gerade erleben ändern?
Das muss man abwarten. Dazu gibt es schon jetzt unterschiedliche Meinungen. Aber eines kann man ganz klar sagen: Die Grundidee, die den Sachverständigenrat bei seinen Empfehlungen geleitet hat, nämlich dass wir eine bedarfsgerechte Steuerung brauchen, die bestätigt sich mehr denn je. Wir brauchen ein gemeinsames Notfall-Leitsystem aus einem Guss. Wir brauchen eine qualifizierte telefonische Ersteinschätzung, die Patienten in die richtige Versorgungsebene steuert.

Wie würde das funktionieren?
Es gibt digital unterstützte Ersteinschätzungshilfen. Wenn man bestehende Algorithmen auf den aktuellen Ausbruch anpasst, kann man 24/7 gezielt fragen, etwa nach Kontaktpersonen, Besuchen in oder aus Risikogebieten, Symptomen und vielem mehr. Dann könnte man mit einer bundesweit abgestimmten, durchdachten Strategie einheitlich die Patienten testen und in die jeweils am besten geeigneten Einrichtungen steuern. Das fehlt uns jetzt. Wir haben 250 verschiedene Rettungsleitstellen und mehrere dutzend Leitstellen der Ärztlichen Bereitschaftsdienste. Bei einer einheitlichen Strategie würden wir weit weniger Druck und Chaos im System haben.

Im Zuge einer fortschreitenden Ambulantisierung benötigen wir definitiv weniger Betten. Wer entscheidet eigentlich darüber, wieviel Vorsorge wir uns für den Notfall leisten wollen?
Krankenhausplanung ist derzeit nahezu alleinige Ländersache. Doch faktisch können diese wegen diverser Besitzstands-wahrender Einschränkungen nicht wirklich durchgreifen. Wir haben in Deutschland einen sehr komplexen Prozess. Das ist auch der Grund, warum das hier noch nicht geklappt hat. Es gibt nicht den einen, der das entscheiden kann. Insbesondere kann das nicht der Bundesgesundheitsminister.

Wieviel Kapazitäten sollten wir für Notfälle wie diese vorhalten?
Wenn wir einmal eine solche Jahrhundert-Krise haben, können und müssen wir nicht 99 Jahre lang die Ressourcen vorhalten. Wir sollten allerdings mit einer klugen Strategie in der Lage sein, innerhalb von vier Wochen das System hochzufahren. Darauf müssen wir vorbereitet sein.

Können wir im Gesundheitswesen nach dieser Pandemie zur Tagesordnung übergehen? Was benötigen wir?
Wir können auf keinen Fall zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen systematisch aus der Situation lernen und da gibt es sehr sehr viel. Ich habe große Zweifel an der Validität der Daten, auf deren Basis wir jetzt extrem weitreichende Entscheidungen treffen. Dass das Virus sehr infektiös ist und sich daher schnell ausbreitet, ist keine Frage. Aber wie gefährlich es tatsächlich ist, auch wenn wir es ins Verhältnis setzen zu jährlich rund 30.000 Todesfällen durch Krankenhauskeime oder der Übersterblichkeit von 25.000 Influenzatoten vor zwei Jahren, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen sicher auch erkennen, dass der öffentliche Gesundheitsdienst an den allermeisten Standorten komplett überfordert war oder noch ist. Wir sehen Personalmangel, Unterausstattung und fehlende Konzepte. Wir haben das vielleicht größte Problem in Pflegeheimen. Hier leben die Hochrisikopatienten. Normalerweise müsste man genau dort den Einsatz der Mittel konzentrieren. Das alles müssen wir aufarbeiten und für die nächste Pandemie besser vorbereitet sein.

Was ist jetzt zu tun?
Wir brauchen eine Exit-Strategie. Wann kommen wir da wie raus? Dafür gibt es Vorschläge. Zum Beispiel die Strategie der zwei Geschwindigkeiten, die fragt wann wollen wir die Einschränkungen wieder lockern und für wen? Es gibt risikoadaptierte Strategien bei denen man sagt, wir schützen weiterhin, ggf. noch konsequenter die Hochrisikogruppen. Da müsste man vor allem zwischen jungen Menschen ohne Vorerkrankungen und älteren mit Vorerkrankungen unterscheiden. Außerdem brauchen wir dringend einen guten Antikörpertest, den wir noch nicht haben. Dann können wir die Immunisierten erkennen. Die vorhandenen Tests sind leider noch nicht treffsicher genug. Bei der Bedeutung und dem großen Einsatzgebiet können Sie davon ausgehen, dass mit höchster Intensität daran geforscht wird. Für die Exit-Strategie ist ein verlässlicher Test sehr wichtig.

Das Interview wurde am 24. März geführt.

* Deutsche Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin