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Interviews
26.11.2021

Interview des Monats mit Prof. Ina Kopp und Prof. Henning Schliephake Warum die AWMF eine nationale Strategie zur Digitalisierung des Leitlinienwissens fordert

Leitlinienwissen soll in der Breite des Gesundheitswesens über Systemgrenzen hinweg nutzbar gemacht werden. Dafür setzt sich die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftler Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) ein. Warum ein nationaler Aktionsplan die Digitalisierung der Leitlinien flankieren müsse, erläutern Prof. Ina Kopp und Prof. Henning Schliephake von der AWMF im „Interview des Monats“.

Was sind die nächsten notwendigen Schritte, um Leitlinienwissen in verschiedene digitale Anwendungen zu implementieren?
Im ersten Schritt muss das Leitlinienregister der AWMF in ein digitales Format überführt werden, welches den Transfer von Leitlinienwissen überhaupt erst ermöglicht. Technisch bedeutet dies den Aufbau einer Software-Infrastruktur, die internationalen Anforderungen an Datenmodelle, Terminologien und Interoperabilitätsstandards für den Datenaustausch entspricht. Anders gesagt: Wir müssen zunächst ein Haus bauen, welches öffentlich zugänglich ist.
Im zweiten Schritt müssen die Leitlinieninhalte, also die einzelnen Textabschnitte, in ein digitales Format überführt werden, so dass die einzelnen Informationen in der Leitlinie recherchierbar sind und aus dem Text heraus bedarfsgerecht abgerufen werden können. So kann aktuelles Leitlinienwissen am Krankenbett, in der Weiterbildung und im Unterricht sofort nutzbar zur Verfügung stehen. Technisch bedeutet dies die strukturierte Ablage von Leitlinienwissen im digitalen Leitlinienregister der AWMF. Anders gesagt: Das Haus muss mit nutzbarem Mobiliar ausgestattet werden.

Die AWMF fordert für die digitale Transformation des Leitlinienwissens eine nationale Strategie. Ist das nicht etwas hochgegriffen? Fällt dieses Thema nicht vielmehr in den Aufgabenbereich der Selbstverwaltung bzw. der Ärzteschaft?
Der Ansatz, den die AWMF verfolgt, steht nicht in Konkurrenz zu den Aktivitäten der Selbstverwaltung der Ärzteschaft. Wir wollen Selbstverwaltung und Politik unterstützen auf dem Weg zu einer evidenzbasierten Gesundheitspolitik, indem wir Leitlinienwissen leicht und umfassend verfügbar machen. Unser Ziel ist es, Informationen zu liefern, die hilfreich sein können bei der Gestaltung gesundheitspolitischer Maßnahmen und Strategien, nicht die Gestaltung dieser Prozesse selbst. Beispielhaft sind zu erwähnen der Kinderschutz und aktuell die COVID-19-Pandemie. Der AWMF geht es um eine systematische Berücksichtigung formal geprüfter, wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Gesundheitsversorgung, die Prävention und auch die Information der Bevölkerung.

Gibt es bereits Reaktionen anderer Ärzteorganisationen auf Ihren Digitalisierungsvorstoß? Die BÄK will ja offenbar bei der Digitalisierung das Tempo herausnehmen und hat in Richtung gematik ein einjähriges Moratorium gefordert.
Wir sprechen ja hier über das Verfügbarmachen von wissenschaftlich gesicherten Informationen zu Erkrankungen und Therapien, die in verschiedenen Bereichen zur Aufklärung und Entscheidungsfindung hilfreich sein können und die bisher schwer recherchierbar waren. Das ist vollkommen unabhängig von der Strategie oder der Dynamik der Digitalisierung im Bereich der gematik. Aus dem Grunde interferiert auch die Initiative der AWMF nicht mit Überlegungen oder Plänen der BÄK in diesem Bereich.

Das AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement arbeitet daran, das Leitlinienregister der AWMF in eine digitale Softwarestruktur zu überführen. Wann wird dieser Transformationsprozess abgeschlossen sein? Worin besteht der konkrete Nutzen für Ärztinnen und Ärzte?
Zur Überführung des Leitlinienregisters der AWMF in ein digitales Format hat das AWMF-IMWi umfangreiche Vorarbeiten geleistet.
Auf dieser Grundlage hat die AWMF in Abstimmung mit ihren Mitgliedsgesellschaften selbst Geld in die Hand genommen, um den ersten Ausbauschritt des digitalen Leitlinienregisters zu realisieren. Im Wesentlichen werden hierbei Erleichterungen für die Leitlinien erstellenden Fachgesellschaften sowie deren Experten und Expertinnen implementiert. Diese Ausbaustufe wird spätestens im zweiten Quartal 2020 zur Verfügung stehen.
Im zweiten Ausbauschritt geht es um die Gewährleistung der Verfügbarkeit von qualitätsgesichertem Leitlinienwissen in spezifischen Situationen. Dazu gehört nicht nur die Verbesserung der Verfügbarkeit für Ärztinnen und Ärzte, sondern auch für Patientinnen und Patienten, Bürgerinnen und Bürger im Sinne der Förderung der partizipativen Entscheidungsfindung. Darüber hinaus geht es um die Integration von qualitätsgesichertem Leitlinienwissen in die Aus- Fort- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe und in die Qualitätsssicherung.
Für die Realisierung des Gesamtkonzepts bedarf es jedoch einer strukturellen, unabhängigen finanziellen Förderung – daher die Forderung der AWMF nach einer nationalen Strategie zur Unterstützung der Digitalisierung von Leitlinienwissen.