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Interviews
25.03.2022

Interview des Monats mit Prof. Tim Mathes Gesundheitspolitik jenseits von Anekdoten, Intuition und Meinung

Berlin (pag) – Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Evidence Based Health Policy (EBHP), wie kann diese hierzulande praktiziert werden und was muss getan werden, damit Politik und Wissenschaft zueinander finden? Antworten darauf gibt Prof. Tim Mathes, Universitätsmedizin Göttingen. Er ist überzeugt: Schon eine geringfügige Berücksichtigung von Evidenz hat das Potential, Entscheidungen zu verbessern. 

Was genau ist Evidence Based Health Policy und was unterscheidet sie von „herkömmlicher“ Gesundheitspolitik?
EBHP bezeichnet politische Entscheidungen unter expliziter Berücksichtigung systematisch gewonnener objektiver wissenschaftlicher Evidenz. Sie ist von politischen Entscheidungen abzugrenzen, die ausschließlich auf persönlichen Meinungen, „gesundem Menschenverstand“, Anekdoten, Intuition oder Expertenmeinung basieren. Um politische Entscheidungen zu informieren, kommen insbesondere kontrollierte Experimente und systematische Aufbereitungen der wissenschaftlichen Literatur zum Einsatz. Es gibt allerdings keine Standardmethode zur Gewinnung von Evidenz, sondern vielmehr richtet sich diese nach den politischen Rahmenbedingungen wie zum Beispiel Zeitdruck.

Was sind die entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik umgesetzt wird?
Nur wenn klar ist, worum es geht und was bewirkt werden soll, ist eine wissenschaftliche Prüfung möglich. Darum ist eine Grundvoraussetzung, dass die politische Maßnahme zum Beispiel Pflegereform und die Ziele, die damit erreicht werden sollen, etwa die Verbesserung der Lebensqualität, klar definiert werden. Weiterhin muss EBHP immer auch andere mögliche Implikationen mitbetrachten, da eine ausschließlich auf Gesundheit ausgerichtete Sichtweise mitunter wichtige ökonomische, soziale, ethische und organisatorische Aspekte nicht ausreichend betrachtet. Eine einseitige Betrachtung kann zu insgesamt gesehen suboptimalen oder politisch nicht tragfähigen Entscheidungen führen. Letztendlich müssen die Methoden zur Evidenzgenerierung flexibel an die Entscheidungswege, Konsumenten und Dringlichkeit angepasst werden können, damit sie die „richtigen“ Informationen zum „richtigen“ Zeitpunkt liefern.

Welche Barrieren müssen für diesen neuen Politikansatz überwunden werden?
Die vermutlich größte Barriere ist, dass Wissenschaft in der Regel vom politischen Entscheidungsprozess isoliert ist. Hiermit im direkten Zusammenhang steht das Problem, dass Wissenschaft häufig nicht die Forschungsergebnisse liefert, die geeignet sind, politische Entscheidungen adäquat zu informieren oder Forschungsergebnisse nicht in geeigneter Form bereitstellt. So sind etwa Ergebnisse aus Laborversuchen oftmals nicht oder nur sehr eingeschränkt auf reale Entscheidungssituationen übertragbar. Das bedeutet: Es müsste mehr direkt politikrelevante Forschung betrieben werden. Um dieses zu erreichen, scheint eine stärkere Kooperation zwischen Politik und Wissenschaft notwendig.
Insbesondere bei sehr komplexen Entscheidungsprozessen, wenn etwa mehrere Entscheidungsebenen involviert sind, kann zudem eine Schwierigkeit darin bestehen, eine geeignete Stelle und geeigneten Weg zu finden, Evidenz in die Entscheidung einfließen zu lassen.

Wie schätzen Sie die Situation hierzulande ein: Gibt es in Deutschland bereits ein Bewusstsein für EBHP und wird diese in Ansätzen schon praktiziert?
Bisher existiert in Deutschland kein allgemeines Verständnis oder konsistentes Bewusstsein für EBHP. Allerdings gibt es schon verschiedene Bereiche, wo Wissenschaft mit dem Ziel, politische Entscheidungen zu unterstützen, generiert wird. Hierzu zählen beispielsweise wissenschaftliche Ausarbeitungen des Robert Koch-Instituts, des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen oder des Bundesinstituts für Risikobewertung. Die bereitgestellte beziehungsweise verwendete Evidenz entspricht jedoch oftmals nicht den Anforderungen von EBHP. Zudem finden sich nur wenige formalisierte und strukturierte Ansätze, bei denen transparent ist, wie die Evidenz in den Entscheidungsprozess eingeht. Ein Beispiel für EBHP in Deutschland, obgleich nicht explizit als diese bezeichnet, sind die Evidenzaufbereitungen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Dieses wird regelhaft beauftragt, alle Studien zu einer therapeutischen Fragestellung aufzubereiten, für die entschieden werden soll, ob sie im Rahmen des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung erstattet wird. Diese Evidenzberichte werden explizit mit dem Ziel erstellt, den Gemeinsamen Bundesausschuss, der über die Aufnahme in den Leistungskatalog entscheidet, zu informieren.

Was muss getan werden, damit Forscherinnen und Forscher sowie politische Entscheidungsträger eine gemeinsame Sprache sprechen? Worin unterscheidet sich deren Wahrnehmung grundlegend?
Damit EBHP erfolgreich umgesetzt werden kann, müsste in der Politik zunächst einmal ein breiteres Verständnis für die Prinzipien von EBHP geschaffen werden. Zudem ist für die sinnvolle Nutzung von Studiendaten ein grundlegendes Verständnis von vergleichenden Forschungsmethoden wie randomisierte Studien und Statistik unumgänglich, um die Forschungsergebnisse interpretieren zu können. Gleichermaßen müssen sich Wissenschaftler bemühen, Politik und insbesondere politische Entscheidungswege beziehungsweise das Zustandekommen von Entscheidungen zu verstehen. Dieses ist Voraussetzung dafür, dass Wissenschaftler auch die Evidenz erzeugen und in der Form aufbereiten, wie sie von Politikern benötigt wird.

Worin besteht der entscheidende Unterschied zwischen Politik und Wissenschaft?
Ein grundlegender Unterschied ist das Verständnis und der Umgang mit Unsicherheit. Politiker sind oft gezwungen und es gewohnt, Entscheidungen trotz Unsicherheit zu treffen und nehmen diese somit als etwas Selbstverständliches wahr. Wissenschaftler haben hingegen das Ziel, Unsicherheit mittels wissenschaftlicher Forschung zu reduzieren. Politiker müssten anerkennen, dass Wissenschaft dazu beitragen kann, Entscheidungsunsicherheit zu reduzieren. Wissenschaftler müssen hingegen lernen zu akzeptieren, dass politische Entscheidungen immer mit Unsicherheit verbunden sind und mitunter aus politischen Gründen auch nicht in Übereinstimmung mit sicherer Evidenz getroffen werden können.

Welche Länder sind weiter? Was können wir von ihnen konkret lernen?
Ein positives Beispiel bietet Kanada. Hier bestehen vielfältige Bemühungen, in sämtliche gesundheitspolitische Entscheidungen die „beste“ verfügbare Evidenz einzubeziehen. So gibt es sogenannte Policy-Briefs. Das sind Darstellungen von Forschungsergebnissen, die extra zur Information von Politikern entwickelt wurden.

Aber?
Auch in Kanada wird nicht überall und immer ein formalisierter EBHP-Ansatz verfolgt und es ist bisher nicht gelungen, EBHP vollumfänglich zu realisieren. In Deutschland ist aufgrund der Größe und des komplexen Systems eine Umsetzung von EBHP tendenziell noch komplizierter. Wir können aber von anderen Ländern lernen, dass es zunächst nicht darum geht, Evidence Based Health Policy direkt „perfekt“ umzusetzen. Ein erster wichtiger Schritt ist, dieses immer aktiv anzustreben, da schon eine geringfügige Berücksichtigung von Evidenz das Potenzial hat, Entscheidungen zu verbessern.