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Interviews
20.07.2022

Interview des Monats mit Prof. Stefan Huster Umdenken bei Adipositas-Behandlung

Prof. Stefan Huster hat ein Rechtsgutachten zur Adipositas-Chirurgie verfasst, das kurz darauf von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts „gekrönt“ wurde. Kernaussage: Die Operation ist bei adipösen Menschen keine Ultima Ratio, sondern das evidenzbasierte Mittel der Wahl. Im „Interview des Monats“ erläutert der Rechtswissenschaftler von der Ruhr-Universität Bochum Details.
 

Was bedeutet die BSG-Entscheidung konkret für Patienten und für Leistungserbringer?
Die Entscheidung des BSG erging in einem Abrechnungsstreit zwischen Krankenkasse und Krankenhaus. Für eine nähere Analyse muss man die Urteilsbegründung abwarten. Klar scheint mir aber zu sein, dass die Kassen und der Medizinische Dienst nicht mehr stereotyp verlangen können, dass vor der bariatrischen OP alle konservativen Therapien durchgeführt worden sind. Vielmehr gilt hier ein Grundsatz der dynamischen Therapieerschöpfung orientiert am Stand der medizinischen Wissenschaft, Verfügbarkeit von Vergleichstherapien und der individuellen Krankheitslast.

Das BSG spricht in seiner Mitteilung von einer Operation am „gesunden Organ“. Sie sehen das im Gutachten anders. Nämlich wie?
Die bariatrische OP greift in einen gestörten Regulationsmechanismus ein und stellt ihn auf das Niveau Normalgewichtiger zurück. Insofern ist es fraglich, ob der Begriff des gesunden Organs und die aus ihm abgeleiteten Maßstäbe hier sinnvoll anzuwenden sind. Unabhängig davon bedarf jeder körperliche Eingriff der Rechtfertigung, das ist hier nichts Besonderes.

In Deutschland werden etwa 20.000 Eingriffe dieser Art jährlich durchgeführt. Es gibt aber Millionen Betroffene. Behandlungsbedarf und Kapazitäten klaffen weit auseinander. Wie kann das Gesundheitssystem damit umgehen?
Die Adipositas hat auf Dauer viele Einschränkungen und Begleiterkrankungen zur Folge. Ihre Therapie erfordert eine hohe Eigenmotivation und eine lebenslange Lebensstilumstellung. Die chirurgische Intervention kann da sehr helfen, scheidet aber in Deutschland für viele Betroffene aus. Die Fallzahlen pro 100.000 Erwachsenen mit ungehindertem Zugang zur Therapie kennen wir im internationalen Vergleich. Diese scheinen eine realistische Orientierungsgröße darzustellen. Das Versorgungssystem hat hier eine große Chance, für eine evidenzbasierte Therapie die erforderlichen regionalen Strukturen im Sinne einer qualitätsgesicherten Zentrenbildung aufzubauen.