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27.02.2024

Interview des Monats mit Prof. Elisabeth Steinhagen-Thiessen Hypercholesterinämie: Testung nach der Geburt hat viele Vorteile

Die familiäre Hypercholesterinämie (FH) ist in Deutschland stark unterdiagnostiziert. Dabei handelt es sich um eine genetisch bedingte Fettstoffwechselstörung, die erhöhte Cholesterinwerte zur Folge hat. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung können vor den Folgen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall schützen, aber ein systematisches Früherkennungsprogramm existiert bislang (noch) nicht, doch den Gemeinsamen Bundesausschuss hat das Thema jetzt erreicht. Prof. Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Seniorprofessorin an der Berliner Charité, fordert ein frühzeitiges Screening für Kinder nach der Geburt, damit die Erbkrankheit möglichst frühzeitig behandelt werden kann.

Wie profitieren die betroffenen Kinder konkret von einem Screening?
Die Kinder sowie ihre Angehörigen profitieren davon, wenn sie wissen, dass es in der Familie ein kardiovaskuläres Risiko gibt. So können sie rechtzeitig über das Risiko Cholesterin aufgeklärt werden, bevor es in jungen Jahren – etwa mit 42 Jahren – zum plötzlichen Herzinfarkt kommt. Hier besteht eine enorme Chance, einen gesunden Lebensstil zu führen. Die Ernährung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die Eltern dieser Kinder sollten darauf bedacht sein, dass sich die Familie gesund ernährt, niemand raucht und dass regelmäßiger Sport zu den anzustrebenden Lebensgewohnheiten gehört. Die Aufklärung über das angeborene Risiko Hypercholesterinämie sollte so früh im Leben eines Menschen geschehen: Je früher ein gesunder Lebensstil gelebt, desto besser und nachhaltiger.

Sehen Sie eine langfristige Therapie und Nachsorge als gesichert an?
Wir haben heute ausreichende Möglichkeiten, auch junge Patienten mit der angeborenen Störung Hypercholesterinämie mit an Kindern erprobten Medikamenten zu behandeln. Aber zur Behandlung gehören immer zwei Komponenten: Lebensstil, insbesondere Ernährung, und die medikamentöse Therapie ab einem Alter von beispielsweise sechs Jahren.

Wie sollte die Versorgung strukturiert werden?
Die Beratung und Führung dieser Patienten und deren Familien könnte und sollte langfristig von den Hausärzten und Kinderärzten übernommen werden. Man sollte sich überlegen, ob direkt nach einer Diagnosestellung bei der Geburt eines Kindes eine Lipidambulanz aufgesucht wird. Dort existiert das Know-how für diese genetische Erkrankung. Würde ein Neugeborenen-Screening in Deutschland eingeführt, sollten außerdem Aufklärungsmaterialien an die Familien geschickt werden. Ein Netzwerk zur Beratung und gegebenenfalls Therapieeinleitung müsste mit den bereits vorhandenen Lipidambulanzen in den Bundesländern organisiert werden. Ich halte das für sehr gut machbar.

Studien wie VRONI oder Fr1dolin erproben ja bereits ein Screening auf familiäre Hypercholesterinämie bei Kindern…
Beide Initiativen schätze ich sehr. Sie testen die Kinder zu einem späteren Zeitpunkt, zum Beispiel vom sechsten bis zum zehnten Lebensjahr. Ich plädiere jedoch dafür, die Testung gleich bei der Geburt eines Kindes vorzunehmen. Das hat viele Vorteile.

Welche?
Zum Beispiel die hohe Responserate bei Geburt. Bei unserem Pilotprojekt in Mecklenburg-Vorpommern hatten wir eine 99,9-prozentige Beteiligung. Wird der Cholesterin-Test gleichzeitig mit den anderen Testverfahren zum Neugeborenen-Screening durchgeführt, ist das die Möglichkeit, alle in der Bevölkerung zu erreichen. Es kommt darauf an, die sozial Schwachen, die eher weniger Gebildeten und die Migranten gleichermaßen zu erreichen. Das halte ich für sehr wichtig.

Was spricht außerdem für ein Screening direkt nach der Geburt?
Da es sich um eine genetische Erkrankung handelt, die dominant vererbt wird, haben wir dadurch die Chance, auch die Eltern der betroffenen Kinder zu testen. Mindestens einer von ihnen hat dem Kind die Krankheit vererbt. Zur Geburt des Kindes sind die Eltern meist in einem Alter von 26 bis 35 Jahren und ahnen noch nicht, dass sie betroffen sein könnten. Bei dem Risiko genetisch bedingtes hohes Cholesterin tritt die Krankheit Familiäre Hypercholesterinämie in aller Regel erst durch ein vorzeitiges Ereignis wie ein Herzinfarkt mit 45 Jahren zu Tage. Es ist daher von großer Bedeutung, die Eltern gleich mit zu „erwischen“.
Ein weiteres Argument liegt außerdem auf der Hand.

Und zwar?
Das bisherige Neugeborenen-Screening ist bereits in Deutschland eingeführt und wird hervorragend angenommen. Organisatorisch würde es sich lediglich um eine Erweiterung des bestehenden Screenings handeln.