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01.05.2017

Priorisierung ist nicht „Rationierung light“

Priorisierung wird in der Debatte um Verteilungsgerechtigkeit und Ressourcenallokation im Gesundheitswesen nicht selten als Synonym beziehungsweise Euphemismus für den negativ besetzten Ausdruck Rationierung verwendet. Einer offenen und transparenten Debatte ist dies nicht förderlich, denn beide Begriffe bezeichnen unterschiedliche Konzepte.

© Ezio Gutzemberg / Fotolia

Priorisierung führt nicht immer zu Rationierung
Im Gesundheitswesen wird unter Rationierung meist das Vorenthalten medizinischer Leistungen, die einen Nutzen stiften, verstanden – sei es aus Kosten-, Personal- oder Überlastungsgründen. Unter Priorisierung versteht die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vor anderen. „Nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen (d. h. Verknüpfungen bestimmter gesundheitlicher Problemlagen mit zu ihrer Lösung geeigneten Leistungen) können priorisiert werden“, heißt es in einer Stellungnahme.

Priorisierung kann die Grundlage für eine Rationierungsentscheidung bilden – vermutlich werden deshalb die beiden Begriffe auch häufig in einem Atemzug genannt.
Allerdings weist die Kommission ausdrücklich darauf hin, dass Priorisierung als solche nicht zwangsläufig zur Rationierung führt. Sie kann auch dafür verwendet werden, das Gesundheitssystem wirtschaftlicher zu gestalten. Im Fall des Oregon Health Plans führte die ursprünglich als Rationierungsinstrument geplante Prioritätenliste tatsächlich zu einer Ausweitung des Leistungsumfangs der Medicaid-Versorgung. Das Beispiel zeigt: Priorisierung kann sogar Rationierung verhindern.

Doch nach welchen Prinzipien lassen sich medizinische Methoden etc. in eine Rangfolge bringen? Kriterien für Priorisierung hat beispielsweise die ethische Plattform der parlamentarischen Priorisierungskommission in Schweden erarbeitet: Sie hält die Prinzipien Menschenwürde, Bedarf und Solidarität sowie Kosteneffizienz für maßgeblich. Nach Auffassung der ZEKO sollte sich eine gerechte Prioritätensetzung an der medizinischen Bedürftigkeit (Schweregrad und Gefährlichkeit der Erkrankung, Dringlichkeit des Eingreifens), am erwartbaren medizinischen Nutzen und der Kosteneffektivität orientieren.

Wer wird zuerst behandelt? Welche Kriterien gibt es für eine gerechte Priorisierung?
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Verdeckte Priorisierung im Alltag
Im Unterschied zu Deutschland haben eine Reihe anderer Staaten bereits Modelle der expliziten Prioritätensetzung entwickelt und erprobt. Auch hierzulande sind „Rationierung und Priorisierung medizinischer Leistungen längst Realität im medizinischen Alltag, wenn auch nicht nach expliziten Kriterien, so doch implizit“, stellen Adele Diederich und Margrit Schreier fest. Als Beleg für eine solche verdeckte Priorisierung verweisen sie auf eine Befragung von Klinikärzten. Demnach wird beispielsweise nach Patientenalter, spezifischen Krankheiten, aber auch Verteilungskriterien wie sozialer Status, Bildung, Geschlecht, Sympathie, Redegewandtheit etc. priorisiert.

Eine solche implizite, mit Rationierungsentscheidungen verbundene Priorisierung lastet auf den Schultern der Leistungserbringer und wird ohne verbindliche normative Vorgaben praktiziert. Es sind deshalb vor allem Ärztevertreter, die sich – wie beispielsweise 2008 auf dem Ulmer Ärztetag – für eine offene Priorisierung einsetzen, während die Politik die Notwendigkeit dafür nicht sieht.