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Interviews
22.04.2014

Interview des Monats mit Sabine Stumpf „Die Bürger wollen sich an der Priorisierungsdebatte beteiligen“

Bei allen Diskussionen zu Priorisierung fehlt selten der Hinweis darauf, dass eine gesellschaftliche Debatte zu dem Thema notwendig sei. Erste praktische Erfahrungen damit hat die Politologin Sabine Stumpf gesammelt. Mit Prof. Heiner Raspe, beide Universität zu Lübeck, organisierte sie vor einigen Jahren
eine Konferenz, auf der sich 19 Bürger mit Prioritäten der medizinischen Versorgung auseinandersetzten. Im April ist ein neues Buch* von Stumpf und Raspe über diese Bürgerkonferenz erschienen. Im Interview des Monats haben wir die Wissenschaftlerin befragt, wie Priorisierung außerhalb von Fachkreisen diskutiert wird.

Frau Stumpf, was waren für Sie die wichtigsten Erkenntnisse der Lübecker Bürgerkonferenz?

Stumpf: Besonders beeindruckt haben mich das Engagement der Bürgerinnen und Bürger und die Qualität ihrer Beratungen. Die Teilnehmer haben gemeinsam nach einer möglichst gerechten und für alle akzeptablen normativen Grundlage für die Priorisierung in der Medizin gesucht und sich dabei weitgehend von ihren eigenen Interessen als unmittelbar selbst Betroffene gelöst. Insgesamt haben die Bürger sich an vier Wochenenden ehrenamtlich getroffen und fast 60 Stunden beraten. Anfängliche Vorbehalte gegen jede Art der Differenzierung in der medizinischen Versorgung sind während der intensiven Auseinandersetzung miteinander und mit den eingeladenen Experten zunehmend aufgelöst worden. Zum Schluss haben die Teilnehmer die Ergebnisse ihrer Debatten in ihrem Bürgervotum festgehalten. Insgesamt sind sie dabei zu vernünftigen und gut durchdachten Positionen gekommen, die einige eigene Schwerpunkte der Bürger zeigten. Die wichtigste Erkenntnis des Projekts lautet deshalb für uns: Bürger wollen und können sich an der Priorisierungsdebatte beteiligen.

In anderen Ländern ist es nicht so exotisch wie in Deutschland, Bürger zu Priorisierung zu befragen. Von wem können wir was lernen?

Stumpf: In vielen anderen Ländern beschäftigt man sich schon seit vielen Jahren mit Priorisierung. Die am häufigsten zitierten Beispiele sind wohl die skandinavischen Länder und der US-Bundesstaat Oregon. Fast überall wurden auch Bürger an den Debatten beteiligt. Das ist etwas, von dem wir in Deutschland sicher noch lernen können. Die Ziele und Methoden der Bürgerbeteiligung sind sehr unterschiedlich. Während man in Schweden primär auf standardisierte Bevölkerungsbefragungen und regionale Diskussionsveranstaltungen gesetzt hat, sind in Oregon auch „Citizen’s Juries“ durchgeführt worden. Diese Verfahren ähneln unserer Bürgerkonferenz: Sie verwirklichen einen modellhaften Diskurs unter Bürgern, an dessen Ende die Teilnehmer eine eigene Stellungnahme verfassen. Die Erfahrungen im In- und Ausland zeigen, dass sich solche Diskursverfahren gerade für normativ sehr anspruchsvolle und in der Bevölkerung noch nicht intensiv diskutierte Themen gut eignen. Daran haben wir uns auch für die Lübecker Bürgerkonferenz orientiert.

Die Bürgerkonferenz liegt mittlerweile vier Jahre zurück. Hat sich die hiesige Debatte inzwischen weiterentwickelt oder treten wir auf der Stelle?

Dass die von den Lübecker Bürgern diskutierten Fragen auch für Fachleute eine große Herausforderung darstellen, zeigen viele ausländische Erfahrungen und auch die kontroverse deutsche Debatte, deren Anfänge bis ins Jahr 1997 zurückreichen. Besonders Politik und Kostenträger haben sich dem Priorisierungsthema lange aktiv verweigert. Der Widerstand ist zwar leiser geworden, von einer breiten öffentlichen Debatte sind wir aber immer noch weit entfernt. Das mag unter anderem daran liegen, dass auch zwischen den an der Diskussion beteiligten Fachleuten lange über die relevanten Begriffe und über das „Ob“ einer Priorisierung in Deutschland gestritten wurde. Seit einiger Zeit geht es aber zunehmend auch um das „Wie“. Verschiedene wissenschaftliche Arbeitsgruppen und medizinische Fachgesellschaften widmen sich dem Thema, in Lübeck haben wir ein Modellprojekt zur Erstellung von Priorisierungsleitlinien nach schwedischem Vorbild durchgeführt und die Zahl der durchgeführten Bevölkerungsbefragungen und Bürgerdiskurse steigt. Es ist also Bewegung in der Debatte. Jetzt muss die Diskussion konstruktiv und mit möglichst breiter Beteiligung fortgesetzt werden.


* Stumpf, S. und Raspe, H. (Hrsg.) 2014: Die Lübecker Bürgerkonferenz zur Priorisierung in der medizinischen Versorgung. „Was ist uns wichtig – und wie können wir darüber entscheiden?“ Jacobs Verlag Lage.