Direkt zu:

Interviews
16.12.2016

Interview des Monats mit Prof. Norbert Suttorp „Die Ökonomie dient den Zielen der Medizin“

Berlin (pag) – Schließen gute medizinische Versorgung und Wirtschaftlichkeit einander aus? Ein Leopoldina-Diskussionspapier hat sich kürzlich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Einer der Autoren ist Prof. Norbert Suttorp, Direktor der Klinik für Infektiologie und Pneumologie, Charité. Im „Interview des Monats“ erklärt er die dienende Funktion der Ökonomie für die Medizin vor dem Hintergrund von DRG-System, Überkapazitäten und mangelnder Investitionsfinanzierung.

Auf vielen Fachkongressen beklagen Ärzte momentan die „Ökonomisierung der Medizin“. In dem Leopoldina-Thesenpapier konstatieren Sie dagegen, dass es ist ethisch geboten sei, das Gesundheitssystem wirtschaftlich, effektiv und effizient zu gestalten. Ein Widerspruch?

Prof. Norbert Suttorp: Das ist kein Widerspruch, wenn man Folgendes bedenkt: In das deutsche Gesundheitssystem fließt viel Geld. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 11,1 Prozent des Bruttoinlandproduktes für Leistungen und Güter des Gesundheitswesens aufgewendet. Wir reden damit über einen Betrag von mehr als 300 Milliarden Euro und für diese sehr große Geldsumme möchte man möglichst viel Gesundheit erwirtschaften. Gesundheitsökonomen sind wichtig bei der Aufgabe zu helfen, dieses viele Geld wirtschaftlich, effektiv und effizient einzusetzen. Die Ökonomie hat im Gesundheitssystem die Aufgabe, die Ziele der Medizin und damit eine qualitativ hochwertige Versorgung bei begrenzten Ressourcen zu erreichen. Damit hat die Ökonomie eine dienende Funktion für die Ziele der Medizin. Hier gehen viele strukturelle Fragen ein.

Zum Beispiel?

Prof. Norbert Suttorp: Wie viele Krankenhäuser brauchen wir? Wie viele Krankenhausbetten benötigen wir? Wie lange ist die Krankenhausverweildauer? Wie sehr verbessern wir die Gesundheit in Relation zum finanziellen Aufwand – auch im Vergleich mit anderen Ländern? Die Autorengruppe des Leopoldina-Thesenpapiers war sich völlig einig darüber, dass immer klar herausgestellt werden muss, dass die Ökonomie den Zielen der Medizin dient. Denn wenn Rahmenbedingungen so gesetzt sind, dass ökonomische Handlungsmaßstäbe medizinische Entscheidungen dominieren, werden die Grenzen ökonomischer Prinzipien im Gesundheitswesen überschritten. Das grundlegende Verhältnis zwischen Medizin und Ökonomie darf nicht umgekehrt werden. Die vielfach zu hörende Klage von Ärzten heutzutage über die Ökonomisierung der Medizin ist somit Ausdruck des Eindrucks, dass diese Umkehrung vielerorts zugelassen wird und erlaubt wird, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt.

Wie lässt sich das vermeiden?

Prof. Norbert Suttorp: Da ist zunächst jeder einzelne Arzt und jede einzelne Ärztin gefragt. Bei der individuellen Versorgung des einzelnen Patienten müssen die medizinischen Aspekte im Vordergrund stehen. In einem weiteren Schritt ist es dann erlaubt zu überlegen, wie ich möglichst effizient und effektiv das Ziel erreiche, ohne dabei Ressourcen zu verschwenden. Ein Arzt, der eine Leistungsvereinbarung unterschreibt, in der ein Teil der Vergütung von dem Erreichen wirtschaftlicher Ziele abhängt, handelt bedenklich. So ein Vertrag setzt Anreize, nicht nur die Indikationsstellung für die Diagnose oder Therapieentscheidung heranzuziehen, sondern ökonomische Überlegungen einfließen zu lassen. Eine Leistungsvereinbarung, die Qualitätsziele festschreibt, ist eher unschädlich.

Welche Rolle spielt das DRG-System?

Prof. Norbert Suttorp: Das DRG-System hat aufgrund von einigen Fehlanreizen das Potential, ökonomische Fehlentwicklungen zu induzieren. Es ist aber auch richtig, dass eine Weiterentwicklung des DRG-Systems alleine nicht ausreicht, um alle Fehlentwicklungen zu beheben. Wir haben bald eine ganze Generation von Ärzten, die ausschließlich im DRG-System groß geworden ist und es ist von großer Bedeutung, wenn bereits den Medizinstudenten, aber auch den Ärzten in den ersten Berufsjahren immer wieder verdeutlicht wird, dass die Medizin zu jeder Zeit Herr im Haus ist und nicht die Ökonomie.
Zur Ausgangsfrage gibt es aber auch einige weitere strukturelle Gesichtspunkte.

... und die wären?

Prof. Norbert Suttorp: Vorhandene Überkapazitäten können dazu führen, dass außermedizinische Überlegungen die Indikationsstellung beeinflussen. Ein weiteres strukturelles Problem betrifft die Unterfinanzierung von Krankenhäusern im Bereich der Investitionen. Der geschätzte Gesamtinvestitionsbedarf der Krankenhäuser pro Jahr wird von den dafür zuständigen Bundesländern in der Regel nur zur Hälfte zur Verfügung gestellt. Eine gleich große Summe muss dann von den Krankenhausträgern aufgebracht bzw. fremdfinanziert werden. Diese Umstände begünstigen die zweckentfremdete Nutzung von DRG-Erlösen, um nötige Investitionen zu tätigen oder gar die Existenz einzelner Häuser zu sichern. Die Phänomene überschreiten den Aktionsradius des einzelnen Arztes und sie zeigen, dass politischer Mut notwendig ist, die notwendigen Strukturveränderungen auf den Weg zu bringen.

Sie verlangen eine gesellschaftliche Diskussion über „grundsätzliche Fragen der Verteilung öffentlicher Mittel und gegebenenfalls notwendige Priorisierungsentscheidungen im Gesundheitsbereich“ zu führen. Wie kann eine solche Debatte geführt werden, wenn Politiker aller Parteien Priorisierung als unethisch und sogar „menschenverachtend“ – O-Ton-Ulla Schmidt – ablehnen?

Prof. Norbert Suttorp: Die finanziellen Ressourcen, die die Gesellschaft für das Gesundheitssystem einsetzen kann, sind begrenzt und sie stehen im Wettbewerb mit weiteren gesellschaftlichen Zielen und Aufgaben wie Bildung, Sicherheit, Soziales und Infrastruktur. Deutschland gibt, wie bereits gesagt, elf Prozent des Bruttoinlandproduktes für das Gesundheitswesen aus; im OECD-Durchschnitt liegt diese Zahl bei neun Prozent. Ob die Zahl elf Prozent für Deutschland genau richtig ist oder es zwei oder drei Prozent weniger sein können oder zwei oder drei Prozent mehr sein müssen, muss gesellschaftlich ausgehandelt werden.

Wie sieht es bei Priorisierungsentscheidungen im Gesundheitsbereich aus?

Prof. Norbert Suttorp: Das sind ähnliche Aushandlungsprozesse, die auf medizinische Fragen fokussieren. Wenn Priorisierung als menschenverachtend von Politikern abgelehnt wird, dann liegt dem vermutlich ein Missverständnis zugrunde, weil die Begriffe Priorisierung, Rationalisierung und Rationierung durcheinandergehen. Diese Begrifflichkeiten meinen nun wirklich nicht das Gleiche. Bei einer Priorisierung geht es nicht um Sparen von Geld, sondern es geht um einen möglichst wirkungsvollen Einsatz des vorhandenen Geldes, um möglichst viel Gesundung und Gesundheit zu erreichen. Bestimmte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden können vorrangig vor anderen sein. Das kann sich auch auf Krankheitsfälle, Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und auf Indikationen beziehen, die priorisiert werden. Am Ende des Tages kann es bedeuten, dass bestimmte Maßnahmen häufiger als zuvor eingesetzt werden, weil sie nachweislich wirkungsvoll den Tod oder eine permanente Behinderung verhindern. Im Gegenzug würden Maßnahmen, die eine unsichere oder unter Umständen gar keine Wirkung haben, weniger durchgeführt oder beendet. Trefflich lässt sich natürlich streiten, nach welchen Prinzipien priorisiert wird. Das lässt sich nur in einem öffentlichen Diskurs angehen. Ein tragender Gedanke dabei bleibt, dass in der Priorisierung die klinischen Professionen eine dominante und die Gesundheitsökonomen eine untergeordnete Rolle spielen. Bei der Rationierung wäre es genau umgekehrt. Die Frage, wie eine solche Debatte geführt werden kann, setzt also voraus, dass man die verschiedenen Begrifflichkeiten auseinanderhält, denn laut Konfuzius ist, wenn die Worte nicht stimmen, das Gesagte nicht das Gemeinte.