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Interviews
25.06.2018

Pro und Contra EU-HTA – Gewinn oder Gefahr?

Berlin (pag) – Ein von der europäischen Kommission vorgeschlagenes einheitliches europäisches Health Technology Assessment (HTA) für neue Arzneimittel und bestimmte Medizinprodukte sorgt im deutschen Gesundheitswesen für Unruhe: Würde darunter die Qualität der hiesigen Versorgung leiden oder kann die Brüsseler Initiative grundlegende HTA-Probleme lösen? Lesen Sie Pro- und Contra-Argumente von Prof. Josef Hecken und Prof. Reinhard Busse.

„EU-weites Health Technology Assessment – der richtige Weg!“
REINHARD BUSSE, Professor für Management im Gesundheitswesen

Deutschland sollte die Chance ergreifen, konstruktiv an der Verbesserung von HTA mitzuwirken. Die Vorschläge der Kommission setzen an bekannten Schwachpunkten an, denn auch Länder mit großen HTA-Institutionen stehen vor einzeln nicht lösbaren Herausforderungen: Erstens zielt HTA auf die Nutzung von Daten, die möglichst eine Aussage für „alle“ Patienten erlauben, und zwar zu patientenrelevanten Endpunkten und im Vergleich zu einer bisher genutzten Alternative. Woher sollen diese Daten kommen, wenn im Extremfall jedes Land dazu unterschiedliche Vorstellungen hat? Zweitens werden neue Medizinprodukte auch in den großen Ländern praktisch noch ohne HTA angewendet. Das Hauptproblem ist ein Mangel an methodisch soliden Studien. 
Der Kommissionsvorschlag sieht für zentral zugelassene Arzneimittel sowie Medizinprodukte hoher Risikoklassen ein europäisches HTA zu vier Dimensionen des Core Models verpflichtend vor. Auf dieser Grundlage können die Mitgliedsstaaten ihre eigenen Entscheidungen zur Aufnahme in den Leistungskatalog treffen. Für uns ergebe sich ein unmittelbarer Mehrwert durch die bisher nicht durchgeführten Bewertungen zu Medizinprodukten. Außerdem können die europäischen Bewertungen landesspezifisch um andere Dimensionen – organisatorische, rechtliche, ethische, soziale und ökonomische – ergänzt werden. Und: Arzneimittel- und Medizinprodukteherstellern wird deutlich vor Markteinführung eine „gemeinsame wissenschaftliche Konsultation“ angeboten. Studien sollen dadurch hinsichtlich eingeschlossener Patienten, Endpunkte etc. so gestaltet werden, dass die für die EU-weite Zulassung und für ein sinnvolles HTA notwendigen Daten tatsächlich vorhanden sind. Dies ist nur auf europäischer Ebene erreichbar, da es der Mitwirkung der Europäischen Arzneimittel-Agentur bedarf. Beantragen Hersteller diese Konsultationen nicht, soll ein „Horizon Scanning“ dazu beitragen, dass sich die europäischen HTA-Agenturen, und damit die Mitgliedstaaten, besser auf die Bewertung vorbereiten können – ein nicht zu unterschätzender Mehrwert.

„Nationale Versorgungssteuerung wird ausgehebelt, Qualität der Versorgung leidet“
JOSEF HECKEN, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses

Die EU hat in der Sozialversicherung keine Regelungszuständigkeit, und die Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes ist keine tragfähige Grundlage für weitreichende Eingriffe in nationale Gesundheitssysteme. Eine Zentralisierung der Bewertung von Arzneimitteln und Medizinprodukten, so wie von der Europäischen Kommission geplant, birgt die Gefahr, dass die nationale Versorgungssteuerung ausgehebelt wird und die Qualität der Versorgung leidet. Anders als die Zulassung von neuen Arzneimitteln ist die HTA-Bewertung und damit die Versorgungsteuerung abhängig von Strukturfragen, Werteentscheidungen, Wirtschaftskraft und rechtlicher Ausgestaltung der nationalen Gesundheitssysteme. Eine einheitliche und zentrale Bewertung kann die gesundheitssystembezogenen Fragestellungen nur unpräzise oder gar nicht beantworten. Dies ist aber für die Entscheidungen auf nationaler Ebene dringend erforderlich, um erfolgreich und mit hoher Akzeptanz aller Beteiligten zu steuern. Kritisch ist vor allem die fehlende Transparenz des Bewertungsverfahrens und der Verzicht auf nationale Stellungnahmeverfahren und Anhörungen, die unter Beteiligung von medizinischen Fachgesellschaften, klinischen Experten und den Patientenvertretern dazu dienen, die HTA-Bewertung auf den spezifischen, nationalen Versorgungskontext zu fokussieren und die Kliniker und Patienten zu beteiligen. Dieser für den Erfolg und die Qualität von HTA-Verfahren entscheidende Prozess wäre bei einer sehr frühen und in Brüssel zentralisierten HTA-Bewertung nicht möglich, was zwangsläufig zu einer Fehlausrichtung der Bewertung und der Versorgungssteuerung führen würde.