Direkt zu:

Interviews
27.03.2020

Interview des Monats mit Prof. Martin Siegel Überwiegt der gesellschaftliche Nutzen die sozialen und ökonomischen Kosten?

Der Gesundheitsökonom Prof. Martin Siegel, TU Berlin, plädiert dafür, die derzeitigen Maßnahmen unbedingt zeitnah zu evaluieren. Dafür müsse sich die Gesellschaft dringend auf die nötigen Kriterien einigen: „Wie entscheiden wir, ob es wirkt? Wie entscheiden wir, ob der Effekt die Einschränkungen rechtfertigt – also ob der gesellschaftliche Nutzen die sozialen und ökonomischen Kosten überwiegt?“

Die Corona-Krise mache die Menschen gleich, heißt es, da sie alle gleichermaßen bedroht. Stimmt das?
Prof. Martin Siegel: Das würde ich so nicht sagen. Zwar stimmt es, dass das Virus alle Menschen bedroht, und dass jeder, egal ob jung oder alt, einen schweren oder sogar tödlichen Verlauf haben kann. Insofern führt das Virus uns allen unsere Verletzlichkeit vor Augen. Die Risiken und die Möglichkeiten, sich zu schützen, sind aber sehr ungleich verteilt. Das Risiko schwerer Verläufe und die Sterblichkeit sind unter Älteren offenbar deutlich höher als unter Jüngeren. Auch Menschen mit Vorerkrankungen sind stärker von dem Virus bedroht als andere. Insofern fürchte ich, dass die Krise da eher noch Unterschiede zwischen gesunden und chronisch kranken Menschen sowie zwischen Jung und Alt hervorhebt. Auch eine Verstärkung sozialer Ungleichheiten durch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise ist meines Erachtens zu befürchten. Hier wird es sehr auf die genaue Ausgestaltung der finanziellen und rechtlichen Hilfen ankommen. Freiberufler, Selbstständige, Minijobber und andere in prekären Beschäftigungsverhältnissen müssen hier ebenso berücksichtigt werden wie mittelständische und große Unternehmen. Der in den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung geforderte Schutz vor krankheitsbezogenen finanziellen und sozialen Risiken bekommt da eine ungeahnte Dimension.

Das öffentliche Leben wurde jetzt für die gesamte Bevölkerung stark eingeschränkt. Wie schätzen Sie die Situation als Gesundheitsökonom ein?
Siegel: Wenn sich die Fallzahlen weiterhin etwa alle drei Tage verdoppeln, werden wir bald an die Kapazitätsgrenzen unseres Gesundheitssystems stoßen. Dann möchte ich nicht in der Haut der Ärzte stecken, die entscheiden müssen, wer eine Chance auf Genesung hat – und wen man sterben lässt. Es gibt zwar keine aktuellen Studien zu sozialer Distanzierung, aber das Argument, dass Tröpfcheninfektionen bei genügend Abstand vermieden werden, erscheint mir hinreichend plausibel. Die derzeitigen Maßnahmen müssen wir aber unbedingt zeitnah evaluieren. Dafür müssen wir uns als Gesellschaft jetzt dringend auf die nötigen Kriterien einigen: Wie entscheiden wir, ob es wirkt? Wie entscheiden wir, ob der Effekt die Einschränkungen rechtfertigt – also ob der gesellschaftliche Nutzen die sozialen und ökonomischen Kosten überwiegt? Und wie entscheiden wir, wann wir genug erreicht haben und die Grundrechte wieder uneingeschränkte Grundrechte sind? Diese Fragen sind nicht trivial.

Was halten Sie davon, nur die Risikogruppen zu isolieren?
Siegel: Wir wissen noch nicht genug über das Virus, um Risikogruppen adäquat zu definieren: Wen wollen wir wie stark einschränken? Wie sollen wir die Personen identifizieren? Wie ließe sich das mit dem Diskriminierungsverbot in Einklang bringen? Dieser Ansatz würde vermutlich nur auf eine Altersdiskriminierung und Stigmatisierung chronisch Kranker hinauslaufen. Aber selbst wenn das möglich wäre: Auch mit einer ungebremsten Ausbreitung unter jüngeren Menschen ohne Vorerkrankungen wäre unser Gesundheitssystem schnell überfordert. Insofern ist eine Eindämmung der Pandemie in unser aller Interesse – unabhängig von Alter, Vorerkrankungen oder sozialem Status. Insofern macht uns das Coronavirus vielleicht doch etwas gleicher.