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24.07.2023

Interview des Monats mit Prof. Volker Wahn Wegen Engpässen: Rutschen wir in eine Sparmedizin?

Berlin (pag) – Das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz ist vom Bundestag verabschiedet. Experten sind skeptisch, ob das Gesetz seinem Namen gerecht wird. Auch bei den Immunglobulinen gab es im vergangenen Jahr eine ausgeprägte Knappheit, die allerdings kaum für Schlagzeilen gesorgt hat. Im „Interview des Monats“ erläutert der Immunologe und Kinderarzt Prof. Volker Wahn, ehemals Charité, die Hintergründe.

Welche Patientengruppen sind auf Immunglobuline angewiesen?
Dabei handelt es sich um Patienten, die selbst nicht ausreichend Antikörper produzieren: Menschen mit angeborenen Immundefekten oder auch mit bestimmten Krebserkrankungen. Sie erwerben mehr Infektionen als andere. Bei einem erworbenen Immundefekt kann die Therapie bei Erfolg wieder eingestellt werden. Bei einem angeborenen Immundefekt ist oft eine lebenslange Behandlung nötig – es sei denn, es wird eine kurative Behandlung in Form einer Stammzelltransplantation durchgeführt.

Wie ist es bei Immunglobulinen zum Lieferengpass gekommen?
Das ist im vergangenen Herbst ziemlich hochgekocht, mittlerweile hat sich die Lage allerdings wieder stabilisiert. Einer der Gründe für den Engpass war die Pandemie, durch die es zu Lieferkettenproblemen gekommen ist. Außerdem hat übergangsweise ein Hersteller die Lieferung eingestellt.

Was hat den Hersteller bewogen, den Lieferstopp zu verhängen?
Das Unternehmen hat die Ansicht vertreten, dass es angesichts von Rabattforderungen der Krankenkassen unter Herstellerkosten produzieren müsste. In Zeiten von Knappheit wird dann lieber ins Ausland verkauft – in das europäische Ausland oder nach Japan. Dort gibt es auch immer mehr Menschen, die solche Präparate benötigen und auch die Möglichkeit haben, sie zu bezahlen. Diese Entwicklung stellt uns vor Schwierigkeiten: Es handelt sich um einen globalen Markt, bei dem es um Angebot und Nachfrage geht. Sollte hierzulande der Bedarf an Immunglobulinen um acht Prozent steigen, wie es das Paul-Ehrlich-Institut prognostiziert, könnte es wieder knapp werden. Dann werden wir uns mit dem Thema Priorisierung auseinandersetzen müssen.

Wie sieht die momentane Lage aus?
Im Moment steht uns lediglich ein intravenöses Präparat zur Verfügung. Ich erwarte allerdings weitere Neuentwicklungen. In absehbarer Zeit dürfte es ein Spektrum von bis zu sechs verschiedenen Produkten auf dem Markt geben, die wir einsetzen könnten. Für die Produktion von Immunglobulinpräparaten braucht es aber vor allem Blutplasma.

Wie gut ist Deutschland mit Blutplasma versorgt?
Große Mengen Plasma werden immer noch aus den USA eingekauft. Das Plasma, was in Deutschland gewonnen wird, reicht nicht aus. Das ist einer der Knackpunkte: Selbst wenn im Moment eine gute Versorgung sichergestellt ist, kann sich die Lage aufgrund des eher steigenden Bedarfs durchaus wieder verschärfen. Aufgrund unserer Erfahrungen mit Lieferketten in der Pandemie ist es aus meiner Sicht daher sehr wichtig, von den USA unabhängig zu werden. Dafür sind einheimische Plasmaspenden essenziell.

Was müsste der Gesetzgeber tun, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten?
Er sollte alle Hindernisse für eine Plasmaspende beseitigen. Dazu gehört eine angemessene Aufwandsentschädigung für die Spender. Auch die Anforderungen an die Plasmaspendezentren müssten überdacht und modernisiert werden. Mein Anliegen ist, dass wir eine Behandlung der Patienten gemäß state-of-the-art langfristig sicherstellen nicht infolge einer Produktknappheit in eine Sparmedizin reinrutschen. All unsere ganze Aktivitäten für Früherkennung und Frühdiagnose ergeben keinen Sinn, wenn uns die Produkte fehlen, um unsere Patientinnen und Patienten behandeln zu können.

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