Direkt zu:

Interviews
18.12.2023

Interview des Monats mit Prof. Kai-D. Bussmann „Informations-Asymmetrie lädt zum Betrug ein“

Der Jahresumsatz der Gesundheitsbranche von mehr als 350 Milliarden Euro weckt Begehrlichkeiten. Abrechnungsbetrug und Korruption schädigen das Sozialsystem jährlich schätzungsweise um 14 Milliarden Euro. Das Problem ist bekannt, von Kranken- und Pflegekassen eingerichtete Stellen gehen gegen Fehlverhalten vor – aber das Ganze ist äußerst mühselig. Bei einer Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes fordern mehrere Expertinnen und Experten eine kriminologische Dunkelfeldstudie. Was es damit auf sich hat, erklärt Prof. Kai-D. Bussmann, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Was genau untersucht eine Dunkelfeldstudie?
Das Ziel jeder Dunkelfeldstudie ist eine starke Annäherung an die Realität der Kriminalität. Wir wollen genaueres über Häufigkeit, Ursachen, Schadensvolumen und typische Begehungsmuster wissen. Denn unser Bild über bestimmte Kriminalitätsformen speist sich überwiegend aus dem in der Regel viel zu kleinem und zudem vielfach verzerrten Hellfeld der angezeigten und von Polizei und Staatsanwaltschaft – im Gesundheitssektor auch von den Krankenkassen – ermittelten Straftaten. Im Unterschied zum Erfahrungsaustausch in Workshops und auf Tagungen schafft eine Dunkelfeldstudie eine repräsentative und belastbare Datenbasis, indem sie das Wissen und die Einschätzungen aller systematisch erhebt und analysiert.

Wie groß ist so ein Dunkelfeld?
Die Größe des Dunkelfelds schwankt erheblich je nach Delikt, Anzeigeneigung und sozialen Kontext. So ist das Dunkelfeld bei den sog. „opferlosen“ Delikten wie Korruption sehr hoch, da es kein beteiligtes Opfer gibt. Die einzigen Beteiligten, die Bestochenen und Bestechenden, sind Täter. Die Geschädigten sind hingegen immer Externe, in unserem Kontext die Krankenkassen und ihre Beitragszahler. Auch der Betrug hat anders als beispielsweise ein Diebstahl viele strukturelle Vorteile: Der Betrüger arbeitet mit Täuschung und nutzt die Informations-Asymmetrie aus, sodass der Betrogene sich „freiwillig“ schädigt (sog. Selbstschädigungsdelikt). Die Dreieckskonstellation zwischen Arzt/Klink – Patient – Krankenkasse ist hierfür geradezu ein Nährboden, da die hier bestehende extreme Informationsasymmetrie zum Betrug geradezu einlädt.

Was sind die Möglichkeiten und Grenzen solcher Studien?
Zur Korruption im Gesundheitssektor gibt es bereits eine Dunkelfeldstudie (Unzulässige Zusammenarbeit im Gesundheitswesen durch „Zuweisung gegen Entgelt“, 2012), die die bis dahin herrschende Ansicht, es handele sich nur um wenige „schwarze Schafe“ widerlegte. Auch außerhalb des Gesundheitssektors wurden erst durch Dunkelfeldstudien nicht nur das Ausmaß, sondern auch die häufigsten Begehungsmuster von Delikten wie Korruption, Versicherungsbetrug oder auch Steuerhinterziehung und Geldwäsche aufgedeckt. In der Wirtschaft sind daher Befragungen von Unternehmen zur Schädigung durch verschiedenste Formen von Wirtschaftskriminalität mittlerweile Standard.

Welche Methoden kommen zum Einsatz?
Zu den Methoden der Dunkelfeldstudien gehören Befragungen von Tätern, Opfern und Experten sowie Dokumentenanalysen wie Ermittlungsakten und Abrechnungen. Letztere sind jedoch sehr kosten- und zeitaufwendig. Im Kontext des Gesundheitssektors eignen sich hingegen Befragungen der Stellen für Fehlverhalten, da die Krankenkassen nicht nur die Geschädigten sind, sondern Expertenqualität aufweisen. Ergänzend empfiehlt sich das Expertenwissen von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft einzubeziehen. Alle Stellen für Fehlverhalten und die zuständigen Ermittlungsbehörden sollten an webbasierten Befragungen teilnehmen, ergänzt durch qualitative Interviews, um das empirische Bild abzusichern. Die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse erlauben die Ermittlung häufiger Betrugsmuster und mittels Vergleichsgruppenanalysen auch Hochrechnungen zu Verbreitung und Schadensvolumen.

Was versprechen Sie sich von einer Dunkelfeldstudie zu Abrechnungsbetrug und Korruption im Gesundheitswesen? Was haben die Akteure wie die Kassen und die Politik davon?
Ohne belastbare Daten zu dem Dunkelfeld beruhen alle Annahmen über Verbreitung, Schadensvolumen und typische Begehungsmuster nur auf Erkenntnissen aus dem vielfach verzerrten Hellfeld. Überdies erlaubt eine Dunkelfeldstudie auch die Erhebung der eingesetzten Ressourcen zur Aufdeckung und Prävention, um Defizite auf Seiten der zuständigen Stellen für Fehlverhalten der Kassen als auch auf Seiten der Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft zu erkennen. So können Kassen von einer „good practice“ anderer Kassen lernen. Ein wichtiger Nebeneffekt einer Dunkelfeldstudie ist die Schaffung einer fachinternen und öffentlichen Awareness. Dies sensibilisiert die Politik, aber auch alle Akteure für weiße Flecken auf ihrer Landkarte der Betrugsrisiken. Sie motiviert zu Gegenmaßnahmen, die gezielt auf die typischen Risiken ausgerichtet werden können. Außerdem wissen wir aus Studien in Unternehmen zur Compliance Culture und zu Verdachtsfällen, dass bei Beschäftigten in Unternehmen eine Awareness geschaffen wird, die zu Meldungen von Compliance Verdachtsfällen im Unternehmen motiviert.
Kurzum, eine Dunkelfeldstudie im Gesundheitssektor hat folgende drei Benefits: erstens Aufhellung des Dunkelfelds durch repräsentative Erhebung von Daten zu Verbreitung, Schadensvolumen und Begehungsmuster, zweitens Screening der eingesetzten Ressourcen zur Aufdeckung bei den Stellen für Fehlverhalten und der Ermittlungsbehörden, Analyse der Aufklärungserfahrungen und -quoten und drittens Schaffung einer breiten fachinternen und öffentlichen Awareness.

Verwandte Artikel